Günter Krass - Erinnerungen an die Zukunft als Kind: Lederhose

Früher gab es kein Oktoberfest. Wenn es eins gab, dann hatte es uns niemand erzählt. Wir bekamen robuste Hosen gekauft und mussten die sommers tragen, weil sie unbequem und gleichzeitig stabil waren. Man konnte fettige Finger an ihnen abputzen oder sein Taschenmesser polieren. Sie kamen aus Bayern, einem Land, das fern dem unseren lag. Die Hosen waren aus Leder und hießen folglich Lederhose. Es war verpönt, eine Lederhose aus glattem Leder zu tragen; eine gute Lederhose war blank vom Tragen und Benutzen. Man konnte sie nicht waschen und so war in ihnen ein großer Teil der Kindheit abgebildet. Die Polizei hätte sich die Finger nach den DNA-Spuren geleckt, wenn sie diese denn gekannt hätte. Isar acht fuhr durch die deutschen Fernseher, eine Kriminalserie mit gemütlichen, Ledermäntel tragenden Polizisten, die bayrisch sprachen. Da wurde uns Bayern ein wenig unfremder. Hätte man eine Lederhose im Winter anziehen dürfen, hätten sie einen prima Schlitten abgegeben. Wir hatten damals aber schon Holzschlitten und durften nur auf diesen fahren. Später waren wir die Indianer, die Bayern waren die bösen Weißen. Wir trugen Lederhosen, um uns unerkannt dem Feind zu nähern und ihn schließlich durch einen gezielten Schlag mit einem Maßkrug zu vernichten. Die Weißen aßen Weißwurst und tranken schon am Morgen dünnes Bier. Sie redeten mit unverständlicher Zunge, schwerfällig und irgendwie lallend. Uns war der Maßkrug unbekannt, denn wir kannten nicht einmal das Oktoberfest, wo es das Gefäß zuhauf gab. So kam es wie es in der Geschichte immer kam: Die Weißen siegten und erklärten Ostwestfalen-Lippe zum Reservat.