Günter Krass: Erinnerungen - Rote Welle

Vorbei am Erotikshop mit der Plastikdirne in die Birne; ich sause untendurch, oben quälen sich die Berufstätigen durch das Gewirr der Wege, an Pylonen und Rotweißsignalschildern vorbei, lugen hinter blauen Abdeckplanen hervor und versuchen Schaden von sich fern zu halten, fahren trotzdem viel zu schnell durch diese. „Vater der Birne“ las ich neulich und mir schießt es heiß in den Kopf, mit wem der Vater der Birne dieses Monstrum gezeugt haben mag, welch grausamer Liebesakt hier stattgefunden hat, um dieses Ding hervorzubringen. Da lobe ich mir den Berg, der kreißt und eine Maus gebiert. Kreis Minden-Lübbecke. Die Birne ist kein Kreis. Stopp. Die Gedankenflut bleibt zurück wie hinter gläserner Wand. Rot. Das erste Rot nach der Birne, die ich schadensfrei unterquert habe. Rot. Rote Welle. Heute will ich geschickt sein, will ruhig sein, will nicht fluchen, will dem Verkehrscomputer nicht Prügel androhen. Heute surfe ich auf Grüner Welle. Rot. Es wird Grün. Ich fahre 50, das wird gut sein. 50 ist vorgeschrieben. Rot. Das nächste Rot. Ich knirsche mit den Zähnen ob des gegebenen Versprechens nicht zu fluchen. Versprechen oder Versprecher. Ich fahre 15 Stundenkilometer, was fast gar nicht geht. Hätte ich ein Moped, würde ich umkippen. Rot. Immer noch Rot an der nächsten Ampel. Ich war wohl zu schnell. Ein Fußgänger hätte es geschafft. Vielleicht mit einem Gehgips. Jetzt Grün: Ich sehe auch die nächste Ampel im Grün. Ich trete aufs Gas. 60, 65, 70, 75, ja, das hilft! Es bleibt grün, es ist grün, als ich durch den Ampelbereich rase. Ich hoffe, nicht geblitzt zu werden, ja, Grün, hossa, das läuft, die Stadt mag mich doch! Sie lässt mich rein! Das werde ich gleich der Tanja erzählen. Die mit ihrem „Bei mir ist immer grün!“.



Das Enkelkind steigt zu; es kennt den Weg zur KiTa, gibt Anweisungen, wie ich fahren muss, nein, zurück, hier auf die Brücke, dann die Ringstraße. Rot. Das erste Rot. Ringstraße. Oder ist das noch die Gustav-Heinemannbrücke? Meine Zähne knirschen, ohne dass ich das will. Das Kind sagt: Immer weiter geradeaus. Wenn grün ist, sage ich. Jetzt, sagt das Kind und ich fahre. Das nächste Rot. Ein leiser Fluch zischt aus meinem Inneren hervor. Man flucht nicht, sagt das Kind. Noch weiter gerade aus. Wenn grün ist, sage ich. Grün, sagt das Kind. Grün, sage ich, na, Gottseidank. Immer weiter, sagt das Kind. Das nächste Rot. Das übernächste Rot. Ich murmele mir selbst Unverständliches zu, grunze und quetsche das Lenkrad. Man grunzt nicht, sagt das Kind, wir sind gleich da. Erst noch Rot. Dann rechts. Ja, da, nein, hier. Genau. Ich weiß. Schweiß vor der Stirn.Und es ist Sommer, nicht das erste Mal im Leben. Ich war 18, damals, mein erster Führerschein, wie lang ist das her? Das Kind sagt:, Komm, wir sind da. Ja. Wir sind da. Und ich weiß: Eigentlich mag mich die Stadt; denn sie tut alles, um mich dazubehalten. Ich fahre Richtung Hülle, wo die Welt noch ohne Ampeln auskommt.

Georg Krakl: Hochsitz

Auf einem Hochsitz
saß ein angeschoss’nes Rehkitz.
Der Jäger lag am Boden,
getroffen von der Kugeln Blitz
in seinen dunkelgrünen Loden.
(-mantel)

Tonnes Tagebuch: In die Stadt

Liebes Tagebuch!
Heute bin ich in die Stadt gefahren, um einen Kippschalter zu kaufen. An jeder Ampel war rot. Obwohl ich die Farbe mag, habe ich Probleme mit der Signalwirkung: Ich muss anhalten. Seit ich auf dem Dorf, beziehungsweise im Ortsteil der Stadt wohne, ist immer Rot, wenn ich in die Stadt fahre. Ich kann das nicht verstehen. Ich habe verschiedene Geschwindigkeitsvarianten ausprobiert, ich bin Tempo 30 und dann 40 gefahren, obwohl 50 erlaubt ist, ich bin 60 und später 70 und ganz kurz auch mal dreiungsiebzig gefahren. Immer war die nächste Ampel auf Rot. Das hat System, habe ich gedacht, vielleicht will man den Ortsteilbewohner nicht in der Stadt haben, vielleicht weil man vermutet, der wäre verantwortlich für hässliche Glühweinflecken auf dem neuen und teuren, leider auch saugfähigen Pflaster auf dem Marktplatz. Erstens aber ist jetzt keine Glühweinzeit und zweitens mag ich keinen Glühwein und trinke ihn folglich drittens auch nicht.
Rote Welle. Niemand hat diesen Begriff bisher gesellschaftsfähig gemacht, aber es gibt wohl häufiger eine Rote Welle als eine Grüne. Das macht der Computer, ist die Erklärung. Vielleicht ist dem Computer nicht erklärt worden, welche Vorteile die Grüne Welle hat.
Man sollte Computern nicht zu viel Entscheidungsfreiheiten lassen. Der weiß nicht, was Bürger, und speziell Ortsteilbürger, die einen Kippschalter kaufen wollen, für Bedürfnisse haben.
Eigentlich war ich auch schon etwas erregt, weil ich mir Gedanken machte, wie ich durch die Birne kommen würde, vorbei am Erotikshop mit seinen leicht gewandeten Plastikdamen direkt hinein in die Risikozone. Also, eher unter die Zone, beziehungsweise unterdurch. Das ist der einfachste Weg, wenn man von einfach überhaupt reden darf. Ich bin froh, dass ich den wenigstens beim Hineingeraten in dieses Verkehrsobst nicht die schwierigsten Aufgaben lösen musste, wie zum Beispiel hinter eine blaue Plastikplane gucken, ob die Straße frei ist zum Weiterfahren, oder eventuell doch ein Auto kommt. Wer eine lange Kühlerhaube hat, muss aussteigen. Wenn dann die Straße frei ist und man wieder einsteigt, hat sich die Verkehrslage wahrscheinlich schon wieder verändert. Die Birne ist ein missratener Kreisverkehr, der immer irgendwie provisorisch wirkt und in der jeder versucht, seinen Weg zu finden, ohne Schaden an Leib, Gefährt und Gefährtin zu nehmen. Es drängt sich immer die platte Metapher auf: Der muss es an der Birne gehabt haben, der sich die Birne ausgedacht hat. Wenn ich dann auf die Rote Welle stoße, leide ich kurzfristig an einem Tourettesyndrom. Das Syndrom äußert sich dahingegehend, dass man alle erdenklichen Beleidigungen ausstößt und den Verkehrsverantwortlichen Prügel androht, und zwar mindestens einmal wöchentlich, obwohl wir hier nicht in Saudi-Arabien sind. Es handelt sich ja auch nicht um kritische Blogger, sondern um Menschen, die es nicht schaffen, das zu tun, wofür sie bezahlt werden. Zum Beispiel den Verkehr nicht am Fließen zu hindern, damit der Erwerb eines Kippschalters nicht einen ganzen Tag in Anspruch nimmt. Nachdem ich vor sieben oder acht Ampeln bei Rot gestanden habe und aus Versehen einmal bei Grün gehalten habe, ist mein Vorrat an frischen Beleidigungen erschöpft und ich widme mich dem Finden eines Parkplatz. Ein Schlauberger auf einer Fortbildung für Radiosendungen teilte diese spannende Botschaft zwei lernwilligen Studentinnen mit, die eine Wohung suchten. Nicht Wohnung suchen, Wohnung finden, säuselte er, und schien durchaus bereit zu sein, diese Wohnung inklusive der Studentinnen zu besuchen, wenn sie sie denn gefunden hätten. Positiv denken!, habe ich mir gesagt, einen Parkplatz finden. Da ich in der Regel keine Lust habe, überhöhte Parkplatzgebühren zu zahlen, dauerte die Suche etwas und ich parkte  abseits im Wohngebiet, sodass ich einen 10minütigen Fußweg absolvieren musste. Als ich in der Einkaufszone angekommen war, überlegte ich, wo ich denn einen Kippschalter käuflich erwerben könnte. Leider fiel mir kein Laden ein. Die Einkaufszone der Stadt ist kippschalterfrei. Das hätte man doch sagen können. Alle Geschäfte, die mir einfielen, gibt es nicht mehr. Ob es denn unbedingt ein Kippschalter sein müsste, fragte mich ein Verkäufer in der Herrenabteilung eines Kaufhauses, das  eine kostenlos zu nutzende Kundentoilette bereithält. Und wozu ich denn diesen Kippschalter benötigte, die benutze man heuzutage doch gar nicht mehr. Ich hatte keine Lust, Sinnfragen zu beantworten, und ging erst mal auf die Toilette, die recht passabel war, vor allem weil dort kein dunkler Mann saß, der einem ein schlechtes Gewissen aufdrängte, wenn man nicht 50 Cent in den Teller legte.
Der Gang zum Urinal entlastete mich kurzzeitig etwas und ich konnte mich von dem Gedanken trennen, in dieser Stadt, die jahrelang schon über Arkaden und Einkaufszentren und überdachte Konsumtempel nachdachte, einen Kippschalter erwerben zu können. Eine Stadt denkt nicht, fiel mir. Aber wer könnte diese Aufgabe übernehmen? Bevor ich auf diese Frage antworten konnte, entschied ich mich, nach Hause zu fahren und, um nicht wieder der Roten Welle ausgeliefert zu sein, die Route über die Ringstraße zu nehmen. Diese Straße hat ebenfalls viele Ampeln, damit der Verkehr nicht zum Stillstand kommt. Sie könnte besser Ringenstraße heißen, denn ich musst  hierheute mein verkehrstechnischesTourettesyndrom niederringen. Ich schleuderte meine Beleidigungen noch einmal heraus, wenn auch die gleichen, aber jetzt mit mehr Druck, denn ich dachte, dass ich zwei Rote Welle ausgehalten haben werden würde,  ohne zu Hause einen  Kippschalter vorweisen zu können. Als ich die Ringstraße verlassen hatte, dachte ich, dass ich die Frontscheibe demnächst mal wieder von innen säubern könnte, um die Reste vom Tourette zu beseitigen. Schade, dass noch niemand innenliegende Scheibenwischer erfunden hat, fiel mir ein. Als ich der Tanja von den Roten Wellen berichtete, sagte diese, dass sie das noch nie gehabt habe, und dass das wohl an mir läge, weil ich immer so verkrampft an die Sache ginge. Ich habe mich dann noch an die Zeit erinnert, als man Kippschalter benutzte und die Ampeln so lange grün leuchteten, bis man diese passiert hatte. Früher war es schon schön.

Georg Krakl: Frankfurter Schule

Buon giorno,
Herr Adorno!
Runter von dem neuen Korkeimer,
hochverhrter Herr Max Horkheimer!
Schluss mit dem Geschmuse,
vielgelobter Heribert Marcuse!

Aus mit Denken und Gegrübel,
davon wird mir übel.

Ich-ich laber was!
Lieber Jürgen Habermas!

Henry Müller - Stille Tage im Klischee

Jetzt nicht sprechen, stille lauschen dem Klischee!
Skifahr'n geht nicht ohne Schnee.
Männer denken nur ans Eine,
Fußball, und an helles Bier.
(Das sind zwei!
Auch egal, der Satz ist jetzt vorbei.)
Frauen hab'n rasierte Beine,
Arbeitsscheue fordern mehr Hartz vier.
Schwarze sind ja gar nicht schwarz.
Pattex klebt viel mehr als Harz.
Kinder kennen keine Grenzen,
Schüler schwänzen.
Jungen schlagen, Mädchen heulen.
Glatzen schleppen Baseballkeulen.
Und Politiker? - Die lügen.
Auch die meisten Scheine trügen.
Alles nur Klischee?
Ach, ojeh!
Warte eine Weile
und dann stimmen deine Vorurteile.

Georg Krakl - May

Karl May
hieß mal Kai.

(Er blieb so lange unbekannt,
und hat sich schließlich umbenannt.)

Georg Krakl - Pragmatismus

Schluss mit Denken und Gegrübel!
in die Wand den Dübel!
Und den Nagel in das Holz!
Mit der Säge in das Brett
und die Herta schnell ins Bett!
Hegel fänd das doof,
der ist Philosoph.

Neues aus Allerwärts: Keith Richards lässt sich zu Tom Waits umorperieren

Keith Richards, Gitarrist der Rolling Stönes, brauchte ein neues Ohr, da sein Platz auf der Bühne immer nahe am Lautsprecher gewesen war und das rechte Ohr im Laufe von siebzig Jahren erheblich Schaden genommen hatte. Wenn ich schon mal betäubt bin, so Richards - und von Betäubung versteht der Musiker einiges - dann operiert mich doch in Tom Waits um, der sieht doch wenigstens vier Jahre jünger aus als ich. Die Operation verlief reibungslos, man arbeitete sich schnittig durchs Fleisch, der Kopf ist mittlerweile wieder genesen.
Allerdings verfälscht die gewählte Ohrgröße den Eindruck, es könne sich um den vier Jahre jünger aussehenden Tom Waits handeln. Laute Musik braucht großes Ohr, so die Devise des Operierten. Auch egal, das abschließende Urteil, eigentlich sei es ihm darum gegangen, dass seine kleineren Kindern nicht schreiend vor ihm davonlaufen sollten, weil sie ihn für etwas hielten, mit denen man Kindern Angst macht.
Und überhaupt: Mick Jagger solle sich erst mal um sein achtes Kind kümmern und es langsam an seinen Faltenbalg über den Schultern gewöhnen. Acht Kinder von 12 Frauen, ja wo kommen wir da hin? Und noch mal überhaupt: Bald gibt es ein neues Album, das so frisch klingt wie schon mal gehört. Muss aber sein, weil die Rentenkasse nichts rausrückt.