Heinrich Böller: Das Leben finden (Bruno und sein Rucksack)


Der Rucksack drückt, die Füße schmerzen, Bruno will weiter, Bruno will weg, von zu Hause, von allem, weg vom alten Leben, um ein neues Leben zu finden, weg vom Zwang, vom Eingezwängtsein, weg von den Erziehungsberechtigten, von den Vorschriften, den Anweisungen, den Empfehlungen, den Regeln, den Absurditäten, die die Luft rauben, die den Hals zuschnüren, den Leib erdrücken, die wie ein Haufen Mutterboden lasten, der dir auf dein Gesicht geworfen worden ist, denkt Bruno. Der dich erstickt.
Die Füße schmerzen, der Rucksack drückt, Bruno will weg, weg von sich, von dem, der er ist und war und sein soll. Bruno fängt an zu rennen, wo ist der Horizont, denkt er, da wo es weiter gehen soll? Da wo die Zukunft beginnt?
Der Rucksack drückt, denn in ihm hat Bruno das Vergangene aufbewahrt, falls er es noch einmal brauchen könnte. Bruno weiß, er sollte diesen Sack, diese Last, dieses alte Leben wegschmeißen, weit weg, in einen Abgrund, um nie wieder daran rühren zu müssen.
Da ist der Horizont, hier ist der Abgrund! Das Eine nicht ohne das Andere.
Den Rucksack endlich wegwerfen, die Last loswerden, denkt Bruno, den Sack einfach in den Abgrund fallen lassen! Langsam lässt Bruno den Rucksack auf den Boden gleiten, er spürt, wie er leicht wird, befreit, als könne er fliegen. Bruno hebt sich empor und fliegt und fliegt. Die Luft saust an seinen Wangen vorbei. Endlich frei, denkt Bruno, endlich unendlich endlich. Kurz vor dem Aufprall, denkt Bruno, dass er doch eigentlich den Rucksack hatte fliegen lassen wollen. Egal, Hauptsache weg mit dem Rucksack, schießt es Bruno in den Kopf. Er oder ich, das ist jetzt gleich gültig.
Der Aufprall ist kurz und hart und blutig. Brunos Glieder zerschmettert, der Schädel aufgeplatzt. Bruno lächelt. Das neue Leben im Tod gefunden.

(Zu Mozart: Violinkonzert Nr.3, Adagio)

Günter Krass - Die Parabel vom Drückfrosch


Drückfrosch drückte gern und ausgiebig, besonders Frauen. Er drückte sie alle, ob sie ihm nun bekannt waren oder nicht, es war ihm ein Anliegen, sie zu herzen und zu drücken, und er wollte natürlich auch, dass sie ihn drücken wollten.
Er empfand sich selbst als  Engel, der die Liebe in die Welt brachte, denn es gab keinen, der soviel drückte und herzte, keinen, der so nahe auf andere zuging, so schnell in deren Sphäre drang wie Drückfrosch. Er wusste, dass alle, und besonders Frauen, ein Bedürfnis auf Nähe hatten, dass sie es aber nicht artikulieren oder zeigen konnten, und dass er, Drückfrosch, den Mut hatte, den ersten Schritt zu tun.
Und wirklich, viele hatten sich drücken lassen.
Manche waren enttäuscht, wenn Drückfrosch sie einfach losließ, um eine andere zu drücken, nur weil diese eine Andere den Raum betrat. Drückfrosch drückte unbeirrt weiter, so als ob er eine innere Liste ausfüllte, die ihm eines Tages zeigen würde: Viel gedrückt, gut gedrückt, gut gemacht, bester Drückfrosch des Jahrhunderts!
Ich lasse mich nicht mehr von Drückfrosch drücken, dachten eines Tages viele, der ist mir zu lose, der hüpft von einer zur anderen und wenn es ernst wird, frisst er Fliegen und verschwindet oder quakt laut herum, er sei nicht der Richtige, vielleicht zum Drücken, aber keiner für die Ewigkeit.
Die Menschen, besonders die Frauen, blieben zurück mit ihrer Enttäuschung und beobachteten Drückfrosch aus der Distanz. Wenn eine Neue gedrückt wurde, dachten sie, na, die wird auch noch ihre Erfahrungen machen.
Nachdem Drückfrosch so viel gedrückt und gedrückt hatte, und so viele in seinen Armen sich hatten wohlfühlen müssen, sich hatten herzen lassen müssen, wollte Drückfrosch auch etwas zurück haben. Ich habe so viel Liebe geschenkt, wie ein kleiner Engel, quakte er laut oder leise und immer wieder, wann bekomme ich denn etwas zurück? Er quakte und quakte und quakte und die Menschen, besonders die Frauen, besannen sich und gingen, liefen, stürmten auf Drückfrosch zu, um ihn ihrerseits zu herzen und zu drücken. Nun waren es aber sehr viele, die solches taten, und Drückfrosch kam unter dieser Menge zu liegen, und wurde förmlich erdrückt von so viel Liebe, von so viel Drücken.
Am Ende des Herzens und Drückens war Drückfrosch platt. Er lag am Boden und hauchte sein Leben aus. Das Leben, die Menschen, besonders die Frauen, hatten ihn erdrückt.
Er war voller Trauer, denn er hatte sich etwas anderes gewünscht.
Drückt euch doch selbst, drückt euch ins Knie!, quakte er leise wie ein Hauch und enttäuscht schloss er die großen Augen zum letzten Mal.
Die Menschen, besonders die Frauen, drückten sich selbst, und wenn ein neuer Drückfrosch kam, dann waren sie vorsichtig und traten einen Schritt zurück.
Nur ins Knie drücken, das wollten die Menschen, und auch hier besonders die Frauen, nicht.





Karl Japsers: Kann man ein Loch ausschneiden?

Ein blaues Loch oder die neue Flagge von Japan?
Zuerst einmal muss man ein Loch definieren, und hier wird es ja schon schwierig, denn eigentlich gibt es gar kein Loch. Das Loch definiert sich nämlich über seine Umrandung, ohne diese wäre es ein Nichts. Und das Nichts ausschneiden geht nicht, das wussten wir schon als Kinder.
Vielmehr wenn man was ausschnitte, so wäre es die Umrandung, selbst wenn man ganz nahe am Loche schneiden würde, wenn sich die Entfernung zu diesem extrem Null nähern würde, so bliebe immer noch etwas Umrandung übrig, auch wenn die kaum sichtbar und mit der nächsten Wäsche im Fusselsieb verschwunden wäre.
Mit der Umrandung verschwände auch das Loch, obwohl es jetzt unendlich groß wäre. Es ist aber dann so groß, dass es niemand mehr als Loch erkennen könnte, sondern glaubte, er stünde vor dem Universum. In Wirklichkeit sieht der Betrachter aber jetzt das Universum durch ein unendliches Loch.
Ein Loch zunähen, das ginge schon eher.
Was aber wäre gewonnen, schnitte man ein Loch aus? Nur ein noch größeres Loch, und das sollte ja zu vermeiden sein, weil mit Nichtglück assoziiert.

Eskapismus: Die Flucht aus dem Alltag

Überall ist es schöner, nur hier nicht!

Dieser misslungene Einsatz des Komparativs kann einem das Leben versauern, wenn man ihn ständig hört und wenn man sich in die depressive-resignative Stimmung des Sprechenden ziehen lässt. Früher war alles besser, inklusive Zukunft, in anderen Ländern sowieso, überhaupt ist der augenblickliche Ort die schlechteste Wahl.

Nehmen wir den Osterhasen. Der jammert ständig, dass er zuviel Arbeit hat, dass die Hühner frech sind, nicht die Eier, nämlich farbige, legen, die er bestellt hat, dass er schlecht bezahlt werde und zu wenig Freizeit habe, da er auch noch dem Weihnachtsmann die Bestellliste führen müsse. Mit den Hühner könne man weder eine richtige Beziehung noch eine Art Freundschaft aufbauen; die würden zwar immer laut gackern und herumrennen, wenn er komme, insgeheim stünde der Osterhase aber ganz unten in der Hackordnung.
Damals in Eierland! Das ist seine Parole, die er einem Mantra gleich immer wieder vor sich hin murmelt oder psalmodiert.
Damals in Eierland, da waren die Hühner freundlich, haben gut gearbeitet, farbige Eier in der richtigen Größe gelegt, sie in meine Kiepe getan und sogar noch verteilt. Ich habe dann die Ostereierliste abgehakt und konnte mich der Kontemplation widmen, um mich für den verantwortungsvollen Beruf zu regenerieren, damit der nächste Einsatz in elf Monaten wieder ein makelloser Erfolg werden konnte.

Hier ist alles anders, jammert er, auch die Anerkennung, der Respekt der Bevölkerung fehle, manche machten sich über ihn lustig, weil er mit vorstehenden Zähnen und großen Ohren nicht der Prototyp eines schönen Wesens sei.
Mit seinem Gehalt sei nicht weit zu kommen, und überhaupt seien die Engel verbeamtet und hätten ausgesorgt. Die würden ja auch nicht mehr machen als singen und ein bisschen in der Gegend herumfliegen.
Dann musst du wohl zurück nach Eierland, klopft ihm der Weihnachtsmann wohlwollend auf die Schulter.
Der Osterhase bricht in Tränen aus. Das hat er nicht erwartet. Wird er denn nicht gebraucht, ist er einfach austauschbar, kümmert es niemanden, wenn sein Platz leer bleibt?
Jeder ist ersetzbar, ergänzt der Weihnachtsmann, dann setzen wir einen Engel auf deine Stelle, der ist dann beamtet, da haben wir sowieso weniger Sozialabgaben; die Bestellliste kann dann ein 1-€-Jobber übernehmen, das ist ja Saisonarbeit; oder der Pfingstochse, der muss ja nur ein paar Haken machen.
Aber Haken machen ist doch meine Spezialfertigkeit, schluchzt der Hase.
Haken schlagen, korrigiert der Weihnachtsmann, Haken schlagen und wegrennen. Da hättest du Recht.
Und wenn es in Eierland nicht mehr so schön ist?, heult der Eierbote weiter.
Da könnte man dann nichts machen, schließt der rotbemantelte Bartträger die Fragestunde und schiebt den Osterhasen vor die Tür. Wo's nach Eierland geht, weiß du ja...

Günter Krass - Das Leben finden


Der Rucksack drückt, die Füße schmerzen, Bruno will weiter, Bruno will weg, von  zu Hause, von allem, weg vom alten Leben, um ein neues Leben zu finden, weg vom Zwang, vom Eingezwängtsein, weg von den Erziehungsberechtigten, von den Vorschriften, den Anweisungen, den Empfehlungen, den Regeln, den Absurditäten, die die Luft rauben, die den Hals zuschnüren, den Leib erdrücken, die wie ein Haufen Mutterboden lasten, der dir auf dein Gesicht geworfen worden ist, denkt Bruno. Der dich erstickt.
Die Füße schmerzen, der Rucksack drückt, Bruno will weg, weg von sich, von dem, der er ist und war und sein soll. Bruno fängt an zu rennen, wo ist der Horizont, denkt er, da wo es weiter gehen soll? Da wo die Zukunft beginnt?
Der Rucksack drückt, denn in ihm hat Bruno das Vergangene aufbewahrt, falls er es noch einmal brauchen könnte. Bruno weiß, er sollte diesen Sack, diese Last, dieses alte Leben wegschmeißen, weit weg, in einen Abgrund, um nie wieder daran rühren zu müssen.
Da ist der Horizont, hier ist der Abgrund! Das Eine nicht ohne das Andere.
Den Rucksack endlich wegwerfen, die Last loswerden, denkt Bruno, den Sack einfach in den Abgrund fallen lassen! Langsam lässt Bruno den Rucksack auf den Boden gleiten, er spürt, wie er leicht wird, befreit, als könne er fliegen. Bruno hebt sich empor und fliegt und fliegt. Die Luft saust an seinen Wangen vorbei. Endlich frei, denkt Bruno, endlich unendlich endlich.
Der Aufprall ist kurz und hart und blutig. Brunos Glieder zerschmettert, der Schädel aufgeplatzt. Bruno lächelt. Das neue Leben im Tod gefunden.

(Zu Mozart: Violinkonzert Nr.3, Adagio)

Georg Krakl - Tautologien und seltene Wörter

Der kleine Zwerg
auf hügeligem Berg,
der Nachbar eines großen Riesen,
eines guten, nicht der fiesen,
aß so gerne Werg.

Das hatten einst der fiesen Riesen Schergen
den kleinen Zwergen
zwangseinverleibt.

Drang's ein? Er bleibt,
der Nachgeschmack.

Nur einer unter vielen, dieser eine Zwerg
aß gerne Werg.

Für alle andern hieß es. Finger in den Hals, zackzack!

Spuckt aus den Werg!
Denn du bist nicht allein, du kleiner Zwerg!
Und wehrt euch gegen fiese Riesen
gegen Riesefiesen,
was auch immer das bedeutet,
welche Glocke manchmal läutet,
welcher Wecker weckt
und welcher Schrecken schreckt.
Spuck aus den Werg,
und sei ein ganzer kleiner Zwerg!

Die großen Zwerge gibt es nicht,
die mit dem Strome schwimmen, liebt man schlicht
und einfach, sagen wir,  man hasst sie
und man fasst sie
gern am Kragen.
Das können die nur schwer ertragen.

Der einzelartig-wundersame Zwerg,
der sich verliebt hat in den Werg,
der muss verschwinden,
und wenn wir keinen Ausweg finden,
dann wird der kurz erschossen.
Der schaut dann erst mal leicht verdrossen.
Doch später denkt er, ach, vorbei die Kinderzeit!
Die großen Riesen und die kleinen Zwerge mögen keine Minderheit.





Günter Krass - Orchideen nicht mögen

Als ich heute Morgen ins Wohnzimmer kam, hatte sich die Orchidee, die Müllerschulzes geschenkt hatten, merkwürdig verändert. Wieso magst du keine Orchidee?, fragte die Orchidee, die Müllerschulzes übereignet hatten, weil sie bei uns zum Abendessen eingeladen gewesen waren, was einmal im Jahr vorkam, immer wechselweise, mal hier, mal bei den Müllerschulzes.
Wieso kannst du sprechen?, fragte ich im Gegenzug.
Vielleicht beantwortest du erst mal meine Frage, entgegnete die Orchidee.
Habe ich nie gesagt, dass ich Orchideen nicht mag, versuchte ich mich aus der Bredouille zu ziehen.
Allerdings hast du das gesagt, und zwar bisher dreiundzwanzig Mal in deinem Leben, schmetterte mit die Pflanze entgegen und begann, alle Daten und Gelegenheiten, fein säuberlich und chronologisch geordnet, vorzutragen, nicht ohne auf einen bissigen Unterton zu verzichten.
Ich schluckte. Gegen Listen war nur schwer etwas anzubringen. Mit Listen konnte man Argumente totschlagen und die zum Schweigen bringen, die sie vortrugen.
Äh...,stammelte ich und schaute auf die Uhr.
Sechs Uhr zehn. Der Tag war schon gelaufen. Was sollte noch alles kommen?
Ich muss dann mal, sagte ich mit dem Blick auf die Uhr, und verschwand in Richtung Toilette.
Im Hinausgehen hörte ich ein leises Zischen, das irgendwie gefährlich klang.
Seit heute Morgen weiß ich, warum ich keine Orchideen mochte.

Heinrich Böller - keiner

keiner
kein Einziger und keine Einzige
keine einzige Person kein Mann keine Frau
keine Menschenseele
keiner,
kein Mensch;
keine Macht der Welt,
nicht eine, nicht eine Einzige, nicht ein Einziger, nicht einer
kein Aas; kein Schwanz, kein Schwein, kein Teufel;
keine Sau

keine lebendige Seele

hat den Mund aufgemacht
die Stimme erhoben
ein Wort gesagt

Vladimir Kanniksky - Frauen sind Ringe (2013)

Vladimir Kanniksky - Frauen sind Ringe (2014)
Was will uns Kanniksky mit seinem Bild sagen? Vage lässt sich ein Frauenkörper vor einem Bett vermuten, dann stilisierte Ringe aus schwerem Eisen, die im Kontrast zum eigentlichen Begehr stehen: Ringe als Geschmeide, als Besiegelung der Liebe, als Beweis der Ewiglichkeit einer Beziehung.
Unbemerkt werden sie zu schweren Ketten, die den so Beringten am Boden halten, den sie unbeweglich machen, zum Dasein und Dableiben zwingen.
Wahrscheinlich mal wieder frauenfeindlich, denn Kanniksky ist so. Da lässt er sich genauso wenig ändern, wie jeder andere auch.
Immerhin: Das Bild hat schöne Farben und passt gut zu einer gelben Couchgarnitur oder einem lila Ecktisch.
Die Frage ist ja immer auch: Soll ich die Tapete nach dem Bild kaufen oder das Bild nach der Tapete?