Platten aus der Hülle holen - Richtig gemacht

Man kann die Menschheit in zwei Gruppen einteilen: Der einen ist es aus Unwissenheit über die Verletzlichkeit einer Vinyl-Platte egal, wie sie die Tonscheibe aus dem Cover und der Schutzhülle holt, sie greift mit staub- oder fettbehafteten Fingern in die Hülle und fasst das Objekt einfach an, zieht es raus und klatscht es lieblos auf den Platternteller. Was allein können schon die säurehaltigen Absonderungen der Haut an unerwünschten Nebengeräuschen erzeugen und die Frage „Na, wohl am Lagerfeuer aufgenommen, die Platte? Wie das knistert….“ wird ergänzt „Hast du mit Brandbeschleuniger gearbeitet?“. Der ersten Gruppe bedeutet diese versteckte Kritik oder Schadenfreude mit immanentem Hohn über die Unfähigkeit, eine empfindliche Vinylplatte adäquat zu behandeln, überrhaupt nichts. Eine Platte war ein Gebrauchsgegenstand und wenn man das Gedudel später nicht mehr hören konnte, dann wurde daraus nach Erhitzung im Backofen eine dekorative Chipsschale geformt, die man gut verschenken konnte, zum Beispiel an Leute, die dumme Fragen stellten.


Die zweite Gruppe verhielt sich völlig anders: Sie stellte erst einmal die Frage, ob es sich lohnte, die Platte aufzulegen, denn man musste Zeit haben, um die Plattenseite zu Ende zu hören. Ein vorzeitiges Abheben der Nadel erzeugte immer eine kleine Beschädigung und ein unerwünschtes, hässliches Knackgeräusch, was wiederum den Hörgenuss beeinträchtigte.


Hatte man eine Abspielentscheidung getroffen, wurde die Platten inklusive Schutzhülle aus der Plattentasche (bei Rockmusik Cover) geholt. Entscheidend war der Mittelfinger, der heutzutage in der Regel zweckentfremdet eingesetzt wird. Er ist der längste Finger, der am besten geeignet ist, auf dem Loch in der Mitte der Platte zu landen und Halt zu finden. Der Daumen legte sich an den Rand der Scheibe und die anderen Finger stabiliserten die Lage des Mittelfingers, der immer noch auf dem Loch ruhte, auf dem Plattenlabel, bzw. auf dem Papieraufkleber (bei Volksmusik oder deutschem Schlager). Der Handrücken lupfte die Plattenhülle etwas an und vorsichig konnte so die Platte aus der Ummantelung gezogen werden. Nun musste der Plattenliebhaber umgreifen, sodass die Handflächen sanft an die Seiten der Scheibe drückten. Jetzt war die Platte bereit, aufgelegt zu werden. Hatte man vergessen, die Kunststoffabdeckhaube des Plattenspielers zu öffnen, musste der Vorgang, wie auch nach dem Abspielgenuss später, umgekehrt durchgeführt werden. Vorsichtig legte man nun die Platte mittig auf die Matte des Plattenspielers, sodass ein Metallstift sich direkt in das Loch schieben konnte, um für zentriertes Abspielen zu sorgen. Wer hier bereits erotische Parallelen assoziiert, sollte bedenken, dass es sich trotz aller Feinfühligkeit um ein streng rational durchdachtes Verfahren handelte, das dem Plattenwohl diente, nicht aber zwingend vorgeschrieben war.


Der wirkliche Lieberhaber benutzte keinen Automatik-Plattenspieler, der die Nadel brutal in die Startrille fallen ließ, was ein dumpfes Blbbb erzeugte. Vielmehr wurde die Nadel samt Tonabnehmer auf Startposition gebracht und mittels Tonarmlift sanft und kontrolliert in die Rille gesetzt, um ledigleich ein leises blppp hören zu lassen. Die Zeit, eine Hörentscheidung zu treffen, die Rüstzeiten und die Abhörzeiten, konnten zusammen für eine LP-Seite schon eine Stunde betragen, sodass vielfach die Hörentscheidung negativ ausfiel und die Platte im Regal blieb. Das verhinderte Beschädigungen und sorgte für einen langjährigen uneingeschränkten Hörgenuss.





Eine Untergruppe der eben vorgestellten, waren die Lenco-Clean-Nassabspieler. Davon zu berichten, würde den Abend sprengen. Wer schon mal eine selbstgebastelte Chipsschale verschenkt hat, wird wissen zu welcher Gruppe er gehört.

Plattenspielermeditation

Als Kinder waren wir fasziniert von der sich drehenden Scheibe und es war nicht nötig, eine schwarze Platte mit Rillen, die beim Aufsetzen der Nadel erst kratzende und dann tönend-knisternde Känge abgab, aufzulegen. Stumm blickten wir auf die Drehscheibe, bis das Muster im Zentrum immer mehr verschwamm und eins wurde mit unserem stillen Verharren und Warten auf irgendetwas, was da kommen könnte. Es kam nichts, die Scheibe drehte sich und wir wurden müder und müder. Dann erschien es uns so, als wolle sich der Tonarm aus seiner Befestigung lösen, als wolle die Nadel in nichtvorhandene Rillen springen und uns den Klangzauber des Himmels vermitteln, Engelsgesänge vorjubilieren, Aeolsharfen anzupfen, die Geigen zum Schwingen bringen, und die Hymnen des Paradieses und der Ewigkeit direkt in unser Ohr summen. Lange konnten wir auf das sich drehende Rund starren und die Welt um uns vergessen, vielleicht bis Mutter "Abendessen jetzt, los, wasch dir mal die Hände und dann zackzack!" rief, ein Sakrileg, wahrlich, aber ein notwendiges Übel, um uns wieder in die Wirklichkeit mit all ihren Bedürfnissen zu holen. Wir hätten bis zum Eve of Destruction noch dort gesessen und uns der Rechtsdrehung hingegeben. Tief durchatmen, Arme fest, Augen auf! war unser Schlagwort, dann schlugen wir die Augen auf, wenn sie geschlossen waren, und sahen vor uns die unermüdliche Bewegung des Plattentellers, der uns mit 33 Umdrehungen verzaubert hatte. Oft waren wir benommen und nicht wirklich in der Welt der Dampfkartoffeln, des Erbsengemüses und der Schweinefrikadellen; dann beschlossen wir, das nächste Mal 45 Umdrehungen zu wählen. Wer wusste denn damals schon, was Geschwindigkeit bei einem Menschen bewirken kann.


Heute kann kein MP3-Player das leisten, was der Plattenspieler der Volksgesundheit gegeben hatte. Moderne Technik muss nicht immer zum Wohle der Menschen sein.

A bis Z des Rock: Brian Auger und Julie Driscoll

Julie Driscoll, als sie einmal ihren Text vergessen hatte...
Wenn wir von damals alle, wir, die damals jung waren, an Julie Driscoll denken, dann haben wir ihre Haare vor Augen, ihre Frisur, obwohl die Mütter es nie eine Frisur genannt hätten und den Vätern wäre sie zu dünn, zu flach, zu kalt gewesen.
Einen riesigen Busch verkräuselter Flocken, mit dem die Julie in unserer Erinnerung durch keine Tür passte, rufen wir aus unserem Inneren ab; in Wirklichkeit war die Frisur begrenzt und es war Marsha Hunt, die durch keine Tür passte, und darüber hinaus schwarz war, was ihr ein originäres Bluesfeeling attestierte. Darum musste sich Julie Drsicoll bemühen, auch wenn sie wohl irgendwie singen konnte. Das interessierte uns weniger. Julie Driscoll konnte so abgefahren und lässig die Lippen schürzen, den Muskel unter der Nase dermaßen kürzen, dass man fast ein Fauchen spürte, oder wähnte zu hören.  Wir wollten Julie Driscoll ganz, sie sollte uns gehören und wir überlegten, ob sie wohl was mit Brian Auger hatte. Oder gehabt hatte. Das hätten wir schade gefunden, weil es ihr Image in uns, ihr Image der singenden Göttin, die abgeklärt und flachbrüstig ihre Lieder hinausschmetterte, ohne sich um die Anbetenden zu kümmern, weil es dieses Image zerstört hätte. Da hätten wir uns auch in Lena Valaitis verlieben können. Was auch einige taten, ohne es zu erwähnen natürlich. Denn Lena Valaitis hatte was, abgesehen von den bekloppten Liedern, die man ja ausstellen konnte.
Brian Auger war im Weg. Er spielte Orgel. Sah aus wie der junge Gerard Depardieu, der damals wirklich noch jung war. Er trug Rüschenhemden. Unverzeihlich. Aber wir fingen an, über den Kauf einer Heimorgel nachzudenken. Nur mal so. Einfach aus Interesse.
Die günstigsten gab es bei Dr.Böhm. Das war damals bei uns um die Ecke. Aber die musste man selber zusammenbauen. Deshalb waren die so günstig. Selber spielen musste man auch. Und was war, wenn das mit dem Zusammenbauen nicht klappte? Wenn das mit dem Spielen nicht klappte? Und überhaupt: Wenn es mit Julie Driscoll nicht klappte?
Heute haben wir den riesigen Haarbusch Julie Driscolls in Erinnerung und wenn wir ein wenig im Internet herumblättern, stellen wir fest, dass sie eigentlich ganz kurze Haare hatte. Und dass sie heute fast 50 Jahre älter ist.
Welche Frisur mag sie wohl haben?

A bis Z des Rock: Cohen - Traurige Musik mit Maultrommel und Gitarre

Faszinierend, dachten wir damals und beneideten Leonard Cohen um seinen Gitarrenspielerbonus. Egal, wie du aussahst, egal, was du sonst warst, wenn du  drei Akkorde auf der Wandergitarre spielen konntest und das Lied, das du sangst von dir war, oder irgendwie an Beatles oder Cat Stevens erinnerte, dann lagen dir die Frauen zu Füßen. Manchmal die, die du gar nicht wolltest, aber immerhin. Die andere hatte sich schon dein Kumpel, der nicht dein Kumpel sein sollte, geschnappt, weil er die Hände frei hatte. Kameradenschwein, dachtest du und würdest demnächst einen Song darüber schreiben, aber rein optisch und quantitativ warst du der Sieger, der Womanizer.

Faszinierend, dachten wir damals, wie sich so ein Mann hinstellen kann, billige Gitarre mit Nylonsaiten und eine Maultrommel, vielleicht eine Dreiergruppe morbid jubilierender Mädels, eine traurige Stimme, die Kerzen erlöschen ließ und dieses nöselnde Timbre an den passenden Stellen! Und dann einfach ein Star sein!
Nach jedem Lied, das aus dem Lautsprecher gekrochen war, das kaum in der Lage war, selbst zu stehen und selbst zu klingen, dachten wir daran, dass das Leben keinen Sinn hatte.
Cohen - das war aktive Sterbehilfe.
Vielleicht sollten wir Gitarrespielen lernen.
Mal was Trauriges hören.

A bis Z des Rock: Cohen Runtermacher

Wir waren gut drauf. Hatten Deep Purple gehört, hatten mit den Oberkörpern hospitalistisch gewackelt, vor und und zurück, wir hatten den FLOW, obwohl wir das Wort nicht kannten, waren in einer Art Rausch ohne Drogen, vielleicht mit zweidrei Bieren, die Welt gehörte uns, bei jedem Riff von Richie B wiederholte sich die Botschaft: Ihr habt die Kraft, ihr seid die Macht, ihr seid die Zukunft.

Und dann, ohne Vorwarnung: Leonard Cohen. Nylonsaitengitarre, Maultrommeln, und scheinbar von Cohen hypnotisierte Backgroundsängerinnen.

Alles war sofort wieder da. Wir landeten von unserem Höhenflug. Uns wurden die Flügel von jetzt auf nichts weggenommen, Sturzflug, ohne Fallschirm, harte Landung, nein, Aufprall.

Alles war wieder da:
Die fünf in Mathe. Barni hatte ein Auge auf Rita geworfen, die in Frage gekommen wäre, wenn Sigrid nicht endlich weniger spröde, weniger abweisend wäre. Das Generve: Die Haare sind zu lang, was sollen die Leute denken. Kreuzigung. Verdammte Kreuzigung: Wurde man in der Hölle gekreuzigt? Andere behaupteten, die Hölle sei die längste Theke der Welt. Der Welt? Die Hölle war doch gar nicht Welt! Dauerparty. Hölle war Hölle. Und dann: Wenn wir in den Himmel kämen, Konjunktiv zwei, die Deutscharbeit war auch daneben gegangen, wo bitteschön sollten wir uns treffen? Wie könnten wir uns wiederfinden? Da war doch nichts. Große Liegewiese? Im Schwimmbad war das ja schon schwierig. Da konnte man sagen: Ich bin die rote Badehose. Die Gummiente.

Im Paradies waren doch alle nackt? Oder gäbe es Einheitskleidung? Das war dann eher Internierungslager. Ich wollte aber auch nicht alle nackt sehen. Das wäre nicht schön. Liebe, Religion, Schule, Eltern. Existenziell. Morbide. Und Leonard Cohen hatte seinen Grabgesang angestimmt.

Immer und immer Entscheidungen, die zerrissen: Noch ein Bier? Noch mal an Sigrid? Nach Hause gehen?

Jetzt ist Cohen alt, aber wir sind es auch.
Der Trost: Daran wird sich nichts mehr ändern.

A bis Z des Rock: Genesis - Nursery Crime

Es war immer ein Risiko, den Plattenladen an der Bäckerstraße zu betreten, vor allem wenn man für einen bargeldlosen Langhaarigen gehalten wurde, der sich ohne Kaufabsicht diverse Platten auflegen ließ, um mal reinzuhören, wie er es ausdrückte, und vielleicht ungeschickt seine Fingerabdrücke auf den schwarzen Rillen hinterlassen hatte, weil er in dilettantischer Manier die Scheibe aus dem Futteral zu klauben versucht hatte.
Eigentlich hatte der junge Musikliebhaber den Eindruck, dass hier gar nichts verkauft werden sollte, jedenfalls nicht an ihn, der sein sauer Erspartes nicht für eine minderwertige Platte rausschmeißen konnte. Da hieß es: Mal eben reinhören.
Der Freundlichste des Familienbetriebs war der ältere Bruder des Inhabers, dessen eines Auge so wild in der Höhle herumwanderte, dass man annehmen musste, das andere sei aus Glas und unbeweglich; niemals wusste man, in welches man blicken sollte, denn die Höflichkeit erforderte den Blickkontakt beim Äußern des Hörerwunsches. Dieser schielende Bruder war nur vertretungsweise im unteren Plattenbereich des Laden, sondern eher oben in der Abteilung Blechblasinstrumente zu finden. Wenn er dann vertretungsweise unten war,  legte dann ohne zu murren die Wunschplatte auf und vermittelte den Eindruck, er halte den Interessierten nicht für einen schnorrenden Gammler, sondern für einen Menschen.
Der Rest der Familie - Mutter, Vater und Tochter - hatten allesamt etwas Bissiges, etwas Natternhaftes und Giftiges an sich; so dass der junge Mensch, der sich in den Laden getraut hatte, sich fast genötigt fühlte, die gehörte Platte zu kaufen, auch wenn sie ihm nicht gefiel, anstatt sich im Folterkeller an Fleischhaken aufgehängt wiederzufinden, um dort mit einer Heino-Platte dauerbeschallt zu werden.
Und trotzdem siegte immer Entdeckertrieb. Was gab es Neues? Was konnte man den anderen voraus haben, das sie noch nicht kannten und das in ein paar Jahren der neue Stern am Rockhimmel sein würde.
Fred blätterte in den neuen Alben und stieß auf eine, deren Cover in angenehmen Grün-Gelb gehalten, was ihn irgendwie an die schönsten Winnetou-Sammelbilder erinnerte und so ein wohliges Gefühl nach Sinn und Gerechtigkeit in ihm auslöste. Für die Sammelbilder war Fred längst zu alt, aber das Gefühl war konditioniert.
Bei näherem Betrachten des Gemäldes, das die Basis des Covers bildete, entdeckte er frisch gemähten Rasen in Zentralperspektive, was dem Ganzen etwa Erhabenes und Entrücktes zugleich verlieh. Ein Mädchen mit dümmlicher Spitzenhaube und knielangem Kleid, unter dem sie braune Wollstrümpfe trug holte zu einem Schlag mit einem Krocketschläger aus, um damit einen vor ihr liegenden Puppen- oder Kinderkopf zu treffen, der an der Schnittstelle am Hals blutete. Im Hintergrund eine auf altertümlichen Rollschuhen fahrende Gouvernante, oder auch Nurse, die einen Rohrstock als Balancierhilfe benutzte.
So viel englisch-adlige Perversion weckte Freds Interesse, was denn wohl die schwarzen Rillen hergeben würden?
Missmutig legte die Tochter des Hauses mit spitzen Finger und zusammengepressten Lippen die Platte auf, als gehöre ihr der Kinderkopf, an dem sie gleich getroffen werden würde.
Genesis - nie gehört, murmelte Fred, aber die Musik gefiel ihm. Er zückte sein Portemonnaie und zahlte 22 DM auf den Tisch, eine enorme Summe im Jahr 1971.
Kindergartenvebrechen. Was für ein Anfang einer neuen musikalischen Freundschaft. Fred verließ den Laden unbeschadet, denn er hatte gekauft. Die Familie schaute stumm, aber wahrscheinlich zufrieden über den Verkaufserfolg, hinter Fred her, der seine nächste Genesis-Platte in Bielefeld an einem Plattenbulli mit Importplatten aus Frankreich für 16 DM erstehen würde. Das wusste er aber noch nicht.