A bis Z des Rock: Genesis - Nursery Crime

Es war immer ein Risiko, den Plattenladen an der Bäckerstraße zu betreten, vor allem wenn man für einen bargeldlosen Langhaarigen gehalten wurde, der sich ohne Kaufabsicht diverse Platten auflegen ließ, um mal reinzuhören, wie er es ausdrückte, und vielleicht ungeschickt seine Fingerabdrücke auf den schwarzen Rillen hinterlassen hatte, weil er in dilettantischer Manier die Scheibe aus dem Futteral zu klauben versucht hatte.
Eigentlich hatte der junge Musikliebhaber den Eindruck, dass hier gar nichts verkauft werden sollte, jedenfalls nicht an ihn, der sein sauer Erspartes nicht für eine minderwertige Platte rausschmeißen konnte. Da hieß es: Mal eben reinhören.
Der Freundlichste des Familienbetriebs war der ältere Bruder des Inhabers, dessen eines Auge so wild in der Höhle herumwanderte, dass man annehmen musste, das andere sei aus Glas und unbeweglich; niemals wusste man, in welches man blicken sollte, denn die Höflichkeit erforderte den Blickkontakt beim Äußern des Hörerwunsches. Dieser schielende Bruder war nur vertretungsweise im unteren Plattenbereich des Laden, sondern eher oben in der Abteilung Blechblasinstrumente zu finden. Wenn er dann vertretungsweise unten war,  legte dann ohne zu murren die Wunschplatte auf und vermittelte den Eindruck, er halte den Interessierten nicht für einen schnorrenden Gammler, sondern für einen Menschen.
Der Rest der Familie - Mutter, Vater und Tochter - hatten allesamt etwas Bissiges, etwas Natternhaftes und Giftiges an sich; so dass der junge Mensch, der sich in den Laden getraut hatte, sich fast genötigt fühlte, die gehörte Platte zu kaufen, auch wenn sie ihm nicht gefiel, anstatt sich im Folterkeller an Fleischhaken aufgehängt wiederzufinden, um dort mit einer Heino-Platte dauerbeschallt zu werden.
Und trotzdem siegte immer Entdeckertrieb. Was gab es Neues? Was konnte man den anderen voraus haben, das sie noch nicht kannten und das in ein paar Jahren der neue Stern am Rockhimmel sein würde.
Fred blätterte in den neuen Alben und stieß auf eine, deren Cover in angenehmen Grün-Gelb gehalten, was ihn irgendwie an die schönsten Winnetou-Sammelbilder erinnerte und so ein wohliges Gefühl nach Sinn und Gerechtigkeit in ihm auslöste. Für die Sammelbilder war Fred längst zu alt, aber das Gefühl war konditioniert.
Bei näherem Betrachten des Gemäldes, das die Basis des Covers bildete, entdeckte er frisch gemähten Rasen in Zentralperspektive, was dem Ganzen etwa Erhabenes und Entrücktes zugleich verlieh. Ein Mädchen mit dümmlicher Spitzenhaube und knielangem Kleid, unter dem sie braune Wollstrümpfe trug holte zu einem Schlag mit einem Krocketschläger aus, um damit einen vor ihr liegenden Puppen- oder Kinderkopf zu treffen, der an der Schnittstelle am Hals blutete. Im Hintergrund eine auf altertümlichen Rollschuhen fahrende Gouvernante, oder auch Nurse, die einen Rohrstock als Balancierhilfe benutzte.
So viel englisch-adlige Perversion weckte Freds Interesse, was denn wohl die schwarzen Rillen hergeben würden?
Missmutig legte die Tochter des Hauses mit spitzen Finger und zusammengepressten Lippen die Platte auf, als gehöre ihr der Kinderkopf, an dem sie gleich getroffen werden würde.
Genesis - nie gehört, murmelte Fred, aber die Musik gefiel ihm. Er zückte sein Portemonnaie und zahlte 22 DM auf den Tisch, eine enorme Summe im Jahr 1971.
Kindergartenvebrechen. Was für ein Anfang einer neuen musikalischen Freundschaft. Fred verließ den Laden unbeschadet, denn er hatte gekauft. Die Familie schaute stumm, aber wahrscheinlich zufrieden über den Verkaufserfolg, hinter Fred her, der seine nächste Genesis-Platte in Bielefeld an einem Plattenbulli mit Importplatten aus Frankreich für 16 DM erstehen würde. Das wusste er aber noch nicht.