Nach der Wahl

Vincent van Eijnoor - Nach der Wahl (2017)
Versuch, einen Text in ein Mikrofon zu sprechen und die Diktatfunktion zu nutzen:

"Nach dir dir zurück war war Nein war Bundestagswahl buntes Gefühl Ein O 1:00 Uhr 1:00 Uhr Eine Ohrummuschel ist riesig das linke Ohr ist gewachsen das rechte Ohr ist klein Es ist so toll Es ist so taub die Einflüsterungen der braunen Brut prallt an Ihnen ab an ihn ab an ihm ab wenn die Politik so dämlich ist Wie dieses Mikrofon dann Gute Nacht dann beginnt das große Schweigen. "

Traurig, wie wenig sich technische Geräte um desaströse Wahlergebnisse kümmern...

Alte Papierbilder ohne Sinn?

Gestern vor einiger Zeit fand ich ein altes Papierfoto, das eine Landschaft im Schnee zeigte, ein paar Berge, dunkle Wolken. Der Schnee sah bräunlich aus und die Wolken ebenso. Kein Bild, das man anderen zeigt, damit diese erkennen, wie schön doch der eigene Urlaub gewesen war, eher löst so ein Bild Bedauern aus. Ich fragte mich, wie ich auf die Idee gekommen sein musste, dieses Bild zu schießen. Was heißt schießen? Stimmungsmäßig sah es eher nach einer depressiven Langzeitaufnahme aus. Dann erkannte ich zwei Personen am linken Bildrand, die sich ein  erhebliches Stück unter mir als Fotografen befanden. Was sollten sie dort? Hatte ich sie, weil es gute Bekannte waren, nach unten in die Schneewüste geschickt, um ein Erinnerungsfoto zu schießen? Leider erinnerte ich mich weder an den Ort, noch an die Personen, denn ich konnte nicht erkennen, um wen es sich handeln sollte. Vielleicht waren es auch unbekannte Wanderer, die in den nächsten Tagen als vermisst gelten würden, sodass ich sie vorsichtshalber ein letztes Mal ablichtete. Aber an eine Suchmeldung konnte ich mich nicht erinnern und so wurde wurde mir das Bild, vor allem weil es fast schon in Sepia gehalten war, man also nicht von einem Farbfoto, auf dem vielleicht zwei Farben zu erkennen sind, sprechen konnte, wurde mir das Bild immer fremder und ich stellte mir die Frage, welchen Sinn es machte, ein Lichtbild von einem unwirtlichen Ort mit dreckigem Schnee und dunklen Wolken, verschrobenen Berggebilden und zwei völlig unmotiviert naherwandernden und mir unbekannten Personen zu machen, das man nicht einmal Dritten zeigen konnte, um mit seinen Freizeiterlebnissen anzugeben. Das war Papierverschwendung. Chemikalienverschwendung. Verschwendung von Lebenszeit, wenn man noch ein einzigen Blick auf das Bild würfe.
Da bietet die See doch einiges mehr. Vielleicht fände ich in den nächsten Tagen ein Seebild, und ich hoffte, dass auf diesem nun eine weitere Farbe und eine Person, die ich kannte, zu sehen sein würden. Heimlich lobte ich die Digitalfotografie, die von richtigen Fotografen ja verschrien wird. Da konnte man drauflosmachen, hinterher Farbe beifügen, verzerren, entstellen und verändern. Unweigerlich musste ich an die Wahlplakate denken, die Angela Merkel zeigten. Löschen, dachte ich, löschen, das kann man dann alles löschen. Und das ist gut.

Deutschland wird Gauland

Na, nach dem Erfolg, da wird in vier Jahren ein ganz frischer Wind wehen, könnte AfD-Politiker Gauland gedacht haben, Deutschland wird dann Gauland. Dann putzen wir nach den Ostgebieten auch noch die Westgebiete weg und können endlich in Ruhe tun, was wir nicht lassen können. Meine Untergebenen werden Gauleiter und Deutschland bekommt einen ordentlichen Namen und  eine Struktur. Schluss mit Gesocks und Gemuftis. Gauland ist sauber; da sind wir endlich wieder unter uns. Die von Storch wird Familien- und Heimatvertriebenenministerin, da kann sie keinen Schaden anrichten, und dafür sorgen, dass alle wieder in ihre Heimat zurückkehren. Der Storch bringt die Kinder, das gehört wieder in die Schulbücher, und von Meuthen, dem nehme ich das h und dann wird er Innenminister. Mit Meuten kennt er sich ja aus und weiß, wie man die zur Räson bringt. Hach, das sind Perspektiven! Endlich mal wieder "Neger" sagen, ohne dass alle gleich blöd kucken. Auch wenn gar kein Neger da ist. Gauland hat Zukunft. Danke, liebe Wähler!

Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache

Sprache ist oft verwirrend: Nehmen wir  ein einfaches „Tätatät“. Unsere Ohren lassen das Lautgebilde lässig in unseren Kopf, das Gehirn aber macht sich ernsthaft Gedanken, was denn los sei. Im Falle des Tätatät hat es drei Möglichkeiten, die erste sogar dreiteilig:  

  1. Dem  Hirn des Bildungsbürgers - der ein paar Wörter mehr als Baguette und Bonjour kennt - erscheint das Tätatät ein - sinngemäß - in französisch-erotischem Sinne - Kopf-an-Kopf-Sein. Möglichst liegend.  Der Neoliberale denkt an Kopf-an-Kopf-Rennen im Konkurrenzkampf um Profite, der sozial Engagierte denkt an die Überbevölkerung und deshalb an  enges Herumstehen und die unpolitische Wurst auf dem Sofa an ein Kopf-an-Kopf-Herumliegen, um zum Beispiel Chips zu essen. 
  2. Das Tätatät könnte ein Konjunktiv II sein.  Im Sinne von : Ich tät das essen, wenn ich wüsste, was es wär. Hier ein Satz mit einer Straftat: Der Täter tät das nicht noch mal, wenn er könnte. Abgeleitet aus: Der Täter tut. Der Täter tat. Der Täter tät. 
  3. Das Hirn des Rheinländers kennt keine verschlungenen Wege: Es weiß, dass es sich hier um einen einfachen, oder besser dreifachen Laut -Tätatät - aus dem Karneval handelt. Er ist ein simpler Witzverstärker, den die Karnevalskapelle spielt, wenn eine Pointe vorgesehen ist, um anzuzeigen, dass gelacht werden darf, oder besser, gelacht werden soll.  


Unser Hirn sollte sich vielleicht einfach entscheiden, zu wem es gehören möchte, denn das Bewusstsein bestimmt immer noch das Sein. Das wusste Marx schon. Hat es aber nie zugegeben.

Günter Krass: Was ich eigentlich nicht denken will (1)

Es heißt ja, dass die Gedanken frei sind; aber manchmal frage ich mich doch, was die Gedanken
so denken und warum, und ob Gedanken überhaupt selbständig denken, auch wenn mir das gelegentlich so vorkommt, denn das meiste will ich gar nicht denken. Die Frage bleibt: Wer denkt da für mich?
Vor drei Nächten sinnierte ich gezwungenermaßen im Halbschlaf darüber, wie der Straßenverlauf entlang der Grenze zwischen Deutschland und Holland sei kann und kam zu dem Schluss, dass dieser wohl parallel zur Grenze verlaufen müsste, wollte man eine Auto- oder Fahrradtour unternehmen, um die Grenze zu betrachten. Das der Verlauf genau im rechten Winkel anzustreben sei, wenn man die Grenze überschreiten und in das Nachbarland eindringen wollte oder die Nachbarn in das eigene Land reisen wollten, aus welchen Gründen sie dies auch immer zu tun die Absicht hatten.
Ich folgerte, dass Straßen, die parallel zur Grenze verlaufen, wohl aus einem Zeitalter der Abschottung entstanden sein mussten, in dem niemand den Boden des anderen betreten wollte, oder aus einem Zeitalter, als es als wunderbar galt und erstrebenswert, den Grenzverlauf zu seinen Nachbarn zu bereisen oder zu betrachten. Solches Tun gilt ja gemeinhin als wertfrei und damit unbedeutend, zumal es nicht das geringste Versprechen auf einen kleinen Gewinn, geschweige denn eine irgendwie gearteten Gewinnmaximierung erhoffen lässt.
Der rechtwinklig zur Grenze angelegte Straßenverlauf deutet auf Zeiten des Grenzübertritts hin, was immer schon den in Zwängen steckenden Menschen als verlockend erschienen sein musste, und wenn es nicht die eigenen Beschränkungen zu beseitigen galt, so die des Landes, des Staates und vor allem, und das war das eigentlich Grenzübertretende, des Nachbarlandes. Vielleicht hatte man ein Pfund Butter oder ein Paket Kaffee in der Tasche und versorgte sich mit der fragwürdigen Anmutung eines Schmugglers, auch wenn man feststellte, dass es völlig legal war, ein Pfund Butter oder Kaffee einzuführen, zumal die beiden Produkt im Nachbarland Holland sowieso billiger waren.
Aber das Gefühl reichte, um sich weiterhin einer Art Freiheitsgefühl hinzugeben, man könne tage-, ja monatelang hin- und herlaufen, die Grenze überschreiten, und niemand könne einen daran hindern, vielleicht, vor Erfindung des Schengenraumens, die Zollbeamten, die sich durch solches Tun persönlich beleidigt fühlen könnten, oder auf den Gedanken kämen, medizinisch-neurologisches Personal zu bestellen, das für den Abtransport in eine Gesundungsanstalt Sorge tragen würde.

Ich verstrickte mich in Gedanken über Holland und dachte daran, dass Holland das ganze Vaterland mit Gouda-Käse überschwemmte, wenn man diese Metapher überhaupt nutzen durfte, denn erst im Käsefondue nahm der relativ feste Gouda eine flüssige Konsistenz an. Bevor sich meine Erinnerungen an das Verklebter-Magen-Pappsatt-Mir kommt's gleich hoch-Gefühl andocken konnten, schlief ich doch ein, und hoffte, so schnell nicht wieder aufzuwachen. Im Wegdämmern stellte sich mir noch die Frage, warum es Vaterland heiße und Mutterschiff und nicht Mutterland und Vaterschiff. Bei Vaterschiff fiel mir auch Vaterschaft ein. Glücklicherweise sank ich dann in tiefen Schlaf, in dem ich bis zum frühen Morgen verharrte.

Georg Krakl - Verständigungsprobleme im Ballladen

Die Frau betrat den Ballladen und fragte nach Balladen.
Sie sprach: Damit Gedichte keimen,
Müssen sie sich hinten reimen.
Hier im Ballladen
Gibt es Bälle, war die Antwort, nicht Balladen.

Was sich hinten reimt, das gibt es im Balladenladen.

Günter Krass - Kairo

Email Nölde - Kairo oder Koln (2017)
Kairo mit den spitzen Türmen hat mich aus der Kindheit gerissen. Die Hitze und die Männer in langen Kleidern, die in fremder Sprache auf mich einredeten, gestikulierten und drohten, wie mir schien. 
Die Hitze malte den Gestank der toten Tiere förmlich an die Wände. Und Kairo war nur ein Moloch aus Wänden, zu denen keine Räume gehörten. Ein Mädchen schaute mich aus der Ferne an, so dass ich mich sofort in sie verliebte, weil ich wusste, dass sie unerreichbar bleiben würden. Erst jetzt konnte ich ruhig weiterschlafen. Ich wusste, dass auch ich geliebt wurde. Sie hatte mich angeschaut und würde das Bild nie vergessen: Wie ich in dem Kairo mit den spitzen Türmen in der Hitze des Tages auf offener Straße mit offenen Augen träumte, unsichtbar für alle, die mir auswichen. Sie sah mich. 

Menschliches Streben

Kies Hering - Menschliches Streben (2014)
Streben und Sterben sind ja eng verwandt. Erst wenn man einige Sekunden das Wort Streben betrachtet, erkennt man, dass das r nur ein wenig nach links wandern muss, um den finalen Lebensvorgang zu initiieren.
Streben, das will ein jeder, sogar, ohne zu wissen, wonach. Es ist im Grunde eine Kardinaltugend, die in der Wiege zu finden ist. Streben nach der Brustwarze der Mutter, nach dem Förmchen im Kita-Sandkasten, nach dem Platz eins beim Kopfrechnen und einen direkten Thekenplatz bei der heißumworbenen Mandy, die man vielleicht nur gut findet, weil sie alle haben wollen. Die psychisch Deformierten streben nach mehr, nach Macht, nach Geld, nach Posten in der Politik, nach dem Kanzleramt, nach dem Parteivorsitz der FDP, weil denen in der letzten Zeit die Leute ausgegangen sind, und woher sollen die alle kommen, da muss man jeden nehmen, da stehen die Chancen gut auf einen besonderen Platz. Streben, streben und dann plötzlich sterben. Oder vorhersehbar sterben, noch schlimmer! Und dann die Frage: Wofür war dein Streben? Ja, was weiß denn ich? Ich hab's ja nicht direkt geschafft. Die Warze war ein Gumminippel, statt ein Förmchen zu greifen habe ich die Katzkacke von Kitatiger Maunz erwischt. Kopfrechnen - da war der Hotte schneller. Nur die Mandy, die habe ich gekriegt, nachdem sie schon alle gehabt hatten, die habe ich dann geheiratet. Da hätte ich auf meinen Bauch hören sollen: Mandy? Lass die Finger davon. Wenn der Körper welkt, gibt es nicht einmal ein Hirn, mit dem du dich unterhalten könntest.
Auch in der FDP hat's nicht geklappt. Da ist jetzt der Lindner. Den habe ich immer für einen schwulen Schlagersänger gehalten. Jetzt stehe ich da. Ich hasse Streber.


Lustiger Bundestag mit Norbert Lammert

Natürlich ist dieser Dialog ein Fake. Das ist ja heute normal. Wie könnte der richtige Text lauten?
Dobrindt: Hallo, meine Katze Maut.
Lammert: Die hast doch gar keine Katze.
D: Seit wann duzen wir uns denn?
L: Wir sowieso nicht. Du bleibst schön beim Sie. Ich bin immer noch der Herr Bundestagspräsident.
D: Ich dachte, der hieße Jauch.
L: Du meinst Gauck.
D:Also, sind wir jetzt per Du, oder nicht?
L: Du weißt nicht mal, wie ich heiße, und willst mich duzen?
D: Wie heißen Sie denn?
L: Bundestagspräsident. Nicht Bundespräsident. Bundestagspräsident Lammert.
D: Ziemlich lang für einen Namen.
L: Ach, vergiss es.
D: Ok. Ist auch besser. Das kann sich doch sowieso keiner merken.

Denken wir Neu! - Was ist mit der FDP los?

Die Freien Demokraten starten durch; vorne weg Yuppie Lindner, dieser zeitlose und altersresistente Demagoge, mitten drin Kubicki, der jetzt mit einem Todesstoß gegen Rechtschreibung und Grammatik zu Felde zieht und die Große Schlacht, die um Macht und Einfluss, gewinnen will.
Denken wir Neu!, lässt er in einer Anzeige in einem Tageblatt  lesen.
Diese drei Worte sind nicht allein die Botschaft, dieser Imperativ ist ja erst mal ohne Inhalt, denn er meint wahrscheinlich: Denken wir neu!, und das kann jeder. Einfach mal nicht FDP wählen, wäre der Rat für FDP-Wähler. Für alle anderen: Auch diesmal nicht FDP wählen; selbst wenn das nicht neu ist, neu wäre dann, das viel bewusster zu tun.
Vielleicht ist NEU aber nicht nur ein orthographischer
Ausrutscher, vielleicht ist neu ja eine Idee, oder gar ein Paradigma! Paradigmenwechsel, das klingt wie die Wechseljahre für Männer, denn die FDP ist schon irgendwie männlich-markig-eigenwillig-anders-und dagegen. Domestizierte Revoluzzer stehen zur Wahl, die ihren Business-Anzug im revolutionären Kampf gegen alles, was ihnen nicht passt, nicht mit dem Blut des Kassenfeindes besudeln wollen. Kassenfeind - das sind alle, die dem Kassemachen im Weg stehen, die dem Neoliberalismus nicht die Treue geschworen haben.
Der schlichte Mensch kehrt zurück zur Rechtschreibung der Politiker. Denken wir Neu! Vielleicht sagt das einfach, dass jeder so schreiben darf, wie er mag. Du bist frei, du kannst schreiben, wie du willst, oder wie du kannst! Das bezieht auch alle Bildungsfernen mit ein, inklusive Schlechtdeutschsprechende mit Migrationshintergrund.(1) Damit ist die FDP nicht mehr die Partei der Rechtsanwälte und Zahnärzte, sondern endlich eine Volkspartei, die jeder wählen. Aber nicht muss! Denn das ist Kennzeichen des Liberalismus.
Wir können Deutsch. Das wäre mal was fürs nächste Plakat. Auch wenn das zu den Fake-News gehört.


Anmerkung der Red. : Es handelt sich nicht um Bayern.

JA

Er schwieg immer nur. Die Menschen, die mit ihm lebten, sprachen mit ihm. Er gab keine Antwort. Sie hätten gern gewusst, was er dachte. Er schaute nur stumm vor sich hin und sagte nichts.
Irgendwann begannen die Menschen, Unsinn zu reden. Sie wollten nur ein Ja oder Nein, ein Nicken oder Kopfschütteln. Sie wollten eine Bestätigung oder eine Ablehnung dessen, was sie gesagt hatten. Er schwieg. So begannen sie zu stammeln und zu faseln. Das Schweigen war ihnen unerträglich geworden.
Schließlich schwiegen sie auch und wandten sich von ihm ab.
In seinem Inneren kreiste ein Wort: Ja. Es schwirrte und kreiste in seinem Kopf und setzte sich ganz selten zur Ruhe. Wenn er es aufnehmen und aussprechen wollte, sprang es weg und schwirrte und kreiste von neuem in seinem Kopf. Es war schneller als seine Gedanken. Seine Zunge war wie gelähmt. Er hetzte hinter dem Ja her. Aber er fasste es nicht und konnte es nicht über die Zunge bringen. Gern hätte er ein einziges Mal Ja gesagt.

JA 2
Paul sagte immer Ja. Die Leute wussten das. Sie wussten auch, dass Paul nur schwer Nein sagen konnte.

So stellten die Leute ihre Fragen so, dass die Antwort immer Ja lauten konnte. Oft war Paul anderer Meinung. Trotzdem sagte er Ja. Irgendwann merkte er, wie die Leute fragten. „Hm“, sagte er sich, „niemand ist wirklich an meiner Antwort interessiert.“

Zigarette


Er hatte lange nicht geraucht. Dann schloss er gelegentlich ein Mahl mit einem Espresso und einer Zigarette.

Dann rauchte er seine „Tageszigarette“. Danach  zündete er zwei Zigaretten am Tag an. Warum auch nicht? Er wollte sein Leben selbst bestimmen und aus zwei Zigaretten wurden mehr. Als er eines Tages nervös nach Kleingeld für den Automaten suchte, sagte er sich: „Ich bin frei; ich tue, was ich will.“

Dein wahres Gesicht

Sie ging nicht aus dem Haus, wenn sie nicht geschminkt war. Sie putzte morgens ihre Zähne und duschte. Sie rauchte eine Zigarette und trank eine Tasse Kaffee. Anschließend ging sie noch einmal vor den Spiegel und trug ihr Make-up auf. Es war braun und dick. Die Augen betonte sie mit dicken, schwarzen Strichen. Das Rot ihres Lippenstiftes passte häufig zu ihrer Bluse. 
Die Leute, die sie kannten, wussten nicht, wie sie unter dieser Schminke aussah. Manchmal fragten sie sich, wie wohl ihr wirkliches Gesicht sei. Einer war mutig und sagte zu ihr:  „Zeig uns dein wirkliches Gesicht!“ Es schien, dass sie ihn nett fand, denn eines Morgens ging sie ungeschminkt aus dem Haus. Die Menschen betrachteten sie. Für einige, die sie vorher gekannt hatten, war sie plötzlich fremd. Sie erkannten sie erst beim zweiten Hinsehen. Die anderen fragten sich, was sich an ihr geändert habe.
Ihr Gesicht war unbeweglich. Es wirkte immer noch, als sei sie geschminkt. Nur an ihren Händen konnten sie erkennen, dass sich in ihr etwas bewegte. Sie glaubten, an ihren Händen eine Unruhe zu erkennen, die vorher nicht da gewesen war.
Sie baten: „Zeig uns dein wahres Gesicht!“

Da brach sie in Tränen aus.

Günter Krass - Die Neue (2005)

„Mutter, das ist Wilma!“ Harald sagte das sehr leise. Er wusste, wenn Mutter häkelte, wollte sie nicht sprechen.
„Wilma.“ Harald zögerte. „Wilma ist meine Frau!“
Er wusste nicht, wie er das anders ausdrücken sollte; mit dem Begriff Lebensabschnittsgefährtin wollte er nichts anfangen und seine Mutter würde das schon lange nicht können. Harald legte einen Arm um Wilma, als ob er noch einmal bekräftigen wolle, dass die Frau neben ihm wirklich Wilma war. Und dass es jetzt seine Frau sei.
Wann ist man die Frau eines Mannes? Wenn man miteinander geschlafen hatte?
Harald war sich nicht sicher.
Wenn man sein Leben teilen wollte, in guten wie in schlechten Tagen? Das klang wie abgedroschen. Bisher hatten seine Beziehungen zu Frauen nur wenig Dauer gehabt.
„Mutter!“ Die Angesprochene häkelte weiter, sprach etwas Unverständliches, murmelte etwas, das wie Guten Tag! klingen konnte, oder Hallo. Nein, Hallo würde sie nicht sagen. Das war nicht ihr Stil. Stil kann man das doch nicht nennen, widersprach er sich. Das ist doch eigentlich Unhöflichkeit, Borniertheit, Ignoranz. Harald bemerkte den aufsteigenden Ärger.
Was Wilma jetzt wohl dachte? Welchen Eindruck gewann sie von seiner Mutter? Würde sie auf seinen Charakter schließen? Immerhin war er ihr Sohn. „Das ist Wilma!“ sagte Harald, nachdem er sich noch einmal geräuspert hatte. Fast bewegungslos saß seine Mutter im Sessel. Nur die Finger bewegten sich flink und Masche um Masche fügte sich aneinander. Wie er diese possierlichen Taschentuchumrandungen hasste! Als Kind hatte er oft einen verschmierten Mund gehabt, von Schokolade oder Eis. Seine Mutter hatte dann in ein Taschentuch gespuckt und mit dem feuchten Stoff seine Haut saubergewischt. Er konnte sich an den üblen Geruch ihres Speichels erinnern. Er hatte es gehasst. Auch jetzt ekelte ihn die Erinnerung daran.
Sie hatte auch dafür gesorgt, dass seine Frauen ihm davongelaufen waren. Keine war gut genug gewesen. Hinterher, wenn sie fort waren, hatte sie ihm ihren Reindruck geschildert. Und dann die Vorwürfe: Die hättest du halten sollen. Immer war es zu spät gewesen.
„Komm, Wilma! Wir gehen!“
Aber Wilma hatte sich schon unbemerkt aus seinem Arm gelöst und war in den Flur gegangen. Er hörte, wie sie leise die Haustür öffnete.
„Mach’s gut, Mutter.“
Seine Mutter hob kurz den Kopf, so als wolle sie das Geschehen bestätigen. Sie blickte Harald kurz an, um anzudeuten, dass er es mal wieder nicht geschafft habe. Dann senkte sie den Kopf und konzentrierte sich auf die Häkelarbeit. Ihre Finger bewegten sich flink und reihten Masche an Masche."Wilma!", wisperte sie,"was für ein Name! Nichts für Harald."