Georg Krakl: Wenn ich die Menschen seh (2009)

Wenn ich die Menschen seh, dann kommt mir in den Sinn:
An euch ist alles dran, in euch ist alles drin!
Das Herz, die Lunge, Magen, Darm, Hals, Nasen, Ohren und auch Haar!
Ach Menschen, da fehlt nichts, und das ist wunderbar!

Günter Oecker: Nagelkasten (Wuppertal 2009, Bahnhof, Gleis 5)

Wie angenagelt standen auf dem Bahnsteig und warteten auf unseren Zug. Kein schöner ZUg, dachten wir, und lachten leise über dieses billige Wortspiel, kein schöner Zug, dass uns die Bahn hier stehen lässt, warten lässt, uns langweilen lässt, mit fremden Leuten auf engstem Raum, mit denen wir nicht im Leben zusammen in einem Zug reisen würden, mit denen wir nicht reden würden, die wir nicht anschauten, weil sie ständig zurückblicken, um sich die eigene Langeweile zu vertreiben. Wir schauten in andere Richtungen, nach unten, zur Seite, nach oben. Oh, schöner Nagelkasten, auf dir soll mein Blick ruhen, du bist schön, du veredelst diese Stätte aus Eisen und Beton, dieses Kommen und Gehen, dieses Warten und Fahren. Schöner Nagelkasten, du öffnest unsere Herzen und wir können die Menschen annehmen, die Nächsten, die auch auf ihren Zug warten, der vielleicht der unsrige ist, du öffnest unsere Münder und lässt uns sprechen, das was alle denken, aber nur wenige sich trauen auszuprechen: Scheiß Deutsche Bahn. Ich hätte lieber mit dem Auto fahren sollen! Die Gesichter hellten auf und ein Strahlen machte sich auf ihnen breit. Ein Leuchten ging über den düsteren Ort. Nagelkasten, du hast uns gerettet, erlöst aus unserer Verstrickung, unserem Gefangensein. Wir sind nicht mehr allein!

Mangelnde Feinfühligkeit

Männer haben oft wenig Feingefühl, wenn sie im Weg stehen. Das kann häufig bei Hausarbeiten sein, wenn die Wäsche aufgehängt werden muss, wenn der Staubsauger eingesetzt wird oder die Spülmaschine ausgeräumt wird. Da hat Frau nicht gern einen Stehimweg, der vielleicht ungeholfen seinen möglichen Einsatz anbietet.
Manchmal stehen Männer im Weg, wenn eine Frau fotografiert werden soll; der Fotograf fragt sich dann, wie die Frau wohl ausgesehen haben mag, die er auf die Platte bannen wollte und was er jetzt mit einem kleinkarierten Männerrücken anfangen soll? Der abgewinkelte rechte Arm zeigt noch einmal: Ich habe hier das Sagen, das ist meine Stellfläche, hier bin ich der Platzhirsch. Gekuscht!
Das Leben hat immer Impulse bereit, eingefahrene Verhaltensweisen zu verändern, manchmal durch sogenannte Richtungsanzeiger oder Pfeile. Doppelte Pfeile weisen auf die besondere Dringlichkeit hin. Wenn der Mann sich nicht bequemt, seinen Kopf zu heben und seine Umgebung aufmerksam zu studieren, wird er davon nichts mitbekommen. Zur Strafe könnte ihn die verdeckte Frau vor die heranrollende S-Bahn stoßen. Leider kann sie diese gar nicht erkennen, denn sie wird von einem Mann im kleinkarierten Hemd verdeckt, der seinen rechten Arm angewinkelt, just an der Stelle, wo bei einer Frau die Augen sitzen. Da wird sich das Leben wohl etwas anderes ausdenken müssen, um einen im Weg stehenden Mann verhaltenstechnisch zu korrigieren.

Kleine Geschäfte

Wie kümmerlich wird dem, der im Sitzen sein kleines Geschäft verrichten muss, weil es ihm die Frau diktiert hat, oder er nicht unhöflich sein will und als Gast einem kleinen Schild über dem Spülkasten zu willen ist, seine Tätigkeit vorkommen, wenn er dieses gewaltigen Gebildes angesichtig wird?
Als hätte die Keramik Schwingen und könnte sich über die gesamte Menschheit erheben, dabei laut schreien: Ihr da unten, ihr Sitzer! Kein Vogel startet aus dem Sitzen zu seinem Flug! Steht auf, wenn ihr keinen Vogel habt!

Farbe und Essen

Der hässliche Kommentar von Vegetariern zum Verzehr von Weinbergschnecken: Das Auge bricht mit!
Es zeigt sich hier mal wieder, wie wenig die Geschmackszellen sich gegenüber den Seh- und Tastzellen behaupten konnten. Der Kohlesser hat sich durch ungesunde Ernährung um seinen Feinschmeckerverstand gebracht. Weinbergschnecken seien bleich und glitschig, deswegen von Natur aus ungenießbar. Man assoziiere mit den schmackhaften Kameraden die Leichenblässe des Todes und die glitschige Konsistenz undefinierbarer Flüssigkeiten; Ekel steige auf. Nichts da!, schreit der Gourmet, mit Knoblauch und Butter ein Hochgenuss!
Der Vegetarier kontert mit der dümmlichen Frage, warum man nicht auf Nacktschnecken zurückgreife, die seien doch farblich ansprechender und bereits völlig aus dem Häuschen? Das Auge sei doch immerhin am Essvorgang beteiligt, wenn man nicht blind ist.
Der Fleischkonsument schüttelt darüber nur das Haupt.

Weisheit

Richie: Den weisen Mann erkennt man an seinen wenigen Worten.
Karel: Jupp.
Richie: Ich meine, der sagt nicht viel, aber was er sagt, dass trift hammerhart zu.
Karel: Stimmt.
Richie: Der macht nicht viele Worte, der lässt andere sprechen und denkt sich seinen Teil. Dann denkt er noch mal drüber nach. Frühestens dann sagt er was.
Karel: ---
Richie: Vielleicht sollten wir das auch so machen, also erst mal weniger reden, mehr denken, unter einem Baum sitzen und auf den Fluss kucken, über das Universum nachdenken, und so weiter.
Karel: Jupp.
Richie: Kannst du auch mal was sagen? Ich rede hier die ganze Zeit, und du hier, ja komm mal auf ein Bierchen vorbei, dann plaudern wir ein bißchen, was jeder so im Urlaub gemacht hat, also einfach mal quatschen. Irgendwie komme ich mir verarscht vor.
Karel: Jupp.

Tiere unter sich: Haubentaucher

Vogel: Hallo, bist du Mauersegler?
Anderer Vogel: Eigentlich nicht.
Vogel: Was heißt das denn?
Anderer Vogel: Ich bin in einer Sinnkrise...
Vogel: Was ist das denn? Ineinersinnkrise? Was soll das für ein Vogel sein?
Anderer Vogel: Das wird auseinander geschrieben! In - einer - Sinnkrise!
Vogel: Ich kann nicht schreiben.
Anderer Vogel: Kannst du denn lesen?
Vogel: Was bist du denn für'n Vogel, dass du lesen und schreiben kannst?
Anderer Vogel: Kann ich doch gar nicht.
Vogel: Und was soll das dann?
Anderer Vogel:Was jetzt?
Vogel: Ich hab doch nur gefragt, ob du Mauersegler bist.
Anderer Vogel: Nein.
Vogel: Na also, warum nicht gleich so?

Mit Kunst Geld machen

Für teures Geld kann man heutzutage Kunst von jedermann erwerben, der an seiner Haustür das Schild "Künstler" angebracht hat. Bei vielen Zeitgenossen, die jeden Ramsch als Kunst an den protzsüchtigen Bürger veräußern, muss sich der Unverblendete, der noch nicht in der Abhängigkeit von der Geldmaschinerie der Galerien steckt, fragen: Was soll der Scheiß? Oder: Ist das nicht ein Vogelhäuschen?
Wenn der Kreativling dann noch dem Machwerk einen Titel gegeben hat, etwa "Vogelhäuschen ohne Vogel", dann denkt der Pragmatiker: "Klar, der Mann hat ja auch den Vogel, der kann gar nicht in dem Vogelhäuschen sein!"
Aber, bleiben wir ehrlich. Das ist erst mal Neid. Neid darauf, nicht selbst auf die Idee gekommen zu sein, etwas zusammenzuzimmern und es gegen einen Haufen Bares in fremde Gärten stellen zu lassen. Das ist auch Enttäuschung. Enttäuschung, nicht diese Chance zur revolutionären Aktion genutzt zu haben. Einem reichen, kapitalistischen Sack gezeigt zu haben: Ich schlage dich mit deinen eigenen Waffen! Ich zieh dir das Geld aus der Tasche! Für nichts! Haha!Damit lebe ich in Saus und Braus!
Und natürlich dieser übergroße Wunsch, in Saus und Braus zu leben, ohne wirklich einen Finger dafür krumm zu machen. Und: "Saus und Braus" heißt nicht, dass vorm Fenster die Autos im Halbsekundentakt vorbeisausen und hinter dem Wohnzimmer die Bundesbahn über die Gleise rattert. Das heißt, die Puppen tanzen zu lassen, Sekt und Kavair endlos. Leider ist die Idee mit dem Vogelhäuschen nun schon vergeben.

Anbetung der Dachrinne

Auf dem Lande werden immer noch heidnische Rituale gepflegt: Unter anderem die Anbetung der Dachrinne. Eine der drei Jungfrauen in einem 1000-Seelen-Dorf verkleidet sich alljährlich als Indianer und bastelt sich einen Holzstern. Mit diesem Symbol geht sie zur nächsten Dachrinne und versucht, den Regendämonen zu beschwichtigen und für ihren Geburtstag Sonne zu bewirken, weil der im Freien stattfinden soll; ihr Vater hat nämlich mit dem Großvater zusammen angefangen, in ihrem Zimmer die Tapeten abzureißen, sodass sie gezwungen wäre, ihre Gäste im Garten zu empfangen. Da ist ein Regenschauer eher hinderlich, weil es zum Mittag Suppe gibt, und die wäre dann durch unkontrollierte Flüssigkeitszufuhr vielleicht zu dünn. Die Verärgerung der Gäste wäre die Folge. Und wer will das schon? Und vor allem: Welche Jungfrau lässt sich gern von Vater und Großvater die Tapeten runterreißen?

Georg Krakl: Die Blasenkammer (2009)

Gedichte aus fremden Orten:

In der Blasenkammer°
sang ein Vogel, ganz aus Gold,
vermutlich eine Ammer,
der die Kernphysik so hold.


°) Blasenkammer (Kernphysik: Gerät zum Sichtbarmachen von ionisierenden Teilchen)

Optische Täuschungen im Haushalt:Einseitige Zuneigung?

Das kann nicht gutgehen. Wenn nur einer will, der andere aber nicht, dann führt das ins Chaos. So glaubt man auf diesem Bild, die Kanne würde sich dem Kaktus zuneigen, dieser sich allerdings abwenden, um den wilden, harten Küssen des Wasserspenders zu entgehen. Das ist eine optische Täuschung. In Wirklichkeit wollen beide mit der Klotür anbandeln, die ca. 80cm weiter rechts, von den beiden aus, steht und auf dem Bild nicht zu sehen ist.
Denkbar wäre auch eine Momentaufnahme, irgendein Selbstfindungstanz wird hier veranstaltet, also ohne feste Schrittfolge, und beide sind wie zufällig nach rechts gestolpert; spirituelle Fingerzeige werden sie das nennen, weil sie die Teilnehmergebühr nicht als verplempert ansehen wollen. Aber in Wirklichkeit hat hier ein landesüblicher Abzocker zwei Dummis auf dem Esoteriktripp über den kunststoffbeschichteten Toilettenschrank gezogen.
Also: Demnächst genauer hinsehen! Es ist nicht immer so, wie es scheint. Manchmal jedenfalls.

Konflikte im Haushalt

Es ist nicht schön, wen sich im Haushalt Pflanzen, Geräte und Lebensmittel, sowie und Menschen nicht verstehen, sondern sich anfeinden, schneiden oder aus dem Weg stellen. Hart werden Konflikte, wenn es ums Überleben im Haushalt geht: Wenn der Käseblock langsam in der Einschweißfolie erstickt, weil sich das Küchenmesser hartnäckig weigert, die Folie zu druchtrennen, angeblich, weil es eine feundschaftliche Vereinbarung mit ihr habe. Oder wenn Kaktus und Gießkann sich aus dem Weg stellen, obwohl der Kaktus auf das Wasser der Kanne angewiesen ist, wenn auch nicht so stark, wie etwa eine Dieffenbachie oder ein Tränendes Herz. Der Katus ist eine Wüstenpflanz, die mit ganz wenig Wasser auskommt, was natürlich arrogant auf eine randvoll gefüllte Gießkanne wirkt. Die reagiert natürlich mit Ablehnung und denkt: Der wird schon angekrochen kommen. Weit gefehlt; Kakteen kriechen nicht, dazusind sie zu stolz. So bleiben sie im ärgerlichen Wettkampf: Wessen Wasser verdunstet am schnellsten? Einen Nutzen haben solche Aktionen nicht. Der Mensch steht ratlos daneben, oder diskutiert mit dem Küchenmesser, ob der Käseblock nicht doch endlich aus der Folie befreit werden sollte.

Hölle und Himmel

Da wollte in Osnabrück der Mensch wieder einmal mächtiger sein als der Schöpfer und versuchte, ein Bauwerk zu errichten, das die örtliche Kathedrale überragen sollte, wenn nicht überschatten. Dass solch frevlerisches Tun seinerzeit schon mit Sprachverwirrung bestraft wurde, ist hinlänglich bekannt. Hier einen neuen Versuch zu starten, die himmlische Großmütigkeit zu überprüfen, grenzt an Leichtsinn. Böse Zungen behaupten, dass die Kathedrale gar nicht den Mindestanforderungen an ein solches Bauwerk erfüllt, dass sie zu klein sei, zu stumpf, zu hässlich und aus Gasbeton, dass Löwen nichts zu suchen hätten am Portal und dass falsche Fenster eher Stilmittel der Gegenseite seien, also architektonische Teufelswerke. Nachsicht hätten die Mitmenschen, wenn der Konkurrenzbau schön wäre. Aber Hässlichkeit mit noch größerer Hässlichkeit zu begegnen, dafür hat niemand Verständnis. So bleibt nur noch, die Osnabrücker mit Sprachverwirrung abzustrafen. Wenn der interessierte Tourist also demnächst nach dem Weg fragt, muss er sich nicht wundern, ganz woanders zu landen, als er gewünscht hatte. Daran wird auch der westfläische Frieden von 1648 nichts ändern.

Günter Krass: Essays - Hähnchenfleisch (Auszug)

Günter Krass äußerte sich in einem Essay der mittleren Phase, als er vom Frauenverstehenwoller über den Frauennichtversteher zum Frauenhasser zu mutieren schien, über einen Zusammenhang von Essgewohnheiten und Emanzipation, vor allem auch des Mannes. Bislang wird versucht, den Text, der voller Wut gechrieben zu sein scheint, zu entschlüsseln und die Kernaussage herauszulösen:
...Was hat das mit halber Wahrheit zu tun?
Frauen bestellen gern halbe Hähnchen, männliche halbe Hühner, braune, knusprige, ölig-glänzende Hähnchen. Diese kulinarische Missetat ist nicht mehr und nicht weniger als Verrat an den Männern zu deuten. Wundersam, dass die Emanzenbewegung dieses Tier, dieses halbe Tier, noch nicht in ihr Wappen gesetzt hat. Neben die Tranchierschere. Die gequälte und gedemütigte, die geschändete Kreatur als Symbolfigur des zwischenmenschlichen Fortschritts aus Frauensicht, die dem Mann niemals gerecht werden kann. Dass ich nicht lache! Des zwischenmenschlichen Ausverkaufs!
Aber solange der männliche Kollege am Nebentisch mitisst und wohlig grunzt, während ihm das Fett in den Mundwinkeln steht, erwarte ich kein Mitgefühl. Und der Fleischesser kann nicht einmal zur Brat- oder Currywurst greifen; das wäre die Krönung der makabren Veranstaltung. Die Wurst als Symbol der männlichen Erniedrigung vielleicht? Nein, danke!Vegetarier sollen bekanntlich länger leben. Allerdings sei ihr Leben nicht so schön. Bleibt denn eine echte Alternative? Soll der Mann plötzlich, nur weil er seine Spielgefährtin Britta „Du dumme Pute!“ nannte, als Protest gegen das, was ihm tagtätlich angetan wird, nun Putenfleisch essen? Ist es nicht erniedrigend, Gleiches mit Gleichem zu vergelten? Wenn eine Frau ein halbes Hähnchen isst, Mann, dann gib ihr auch deines dazu. Das hat Größe! Da schimmert der Morgenhimmel der Zukunft durch. Dumm, wenn die Dame die Geste nicht zu würdigen weiß und die zweite Hälfte auch verputzt. Zuvorkommenheit und gediegene Höflichkeit werden meist als plumpe Anmache gedeutet, und dann ist das Geschrei groß. Fazit beleibt: Zwei halbe Hähnchen sind noch kein ganzes. Und das umschreibt das Dilemma, in dem die Männerwelt seit einigen Jahren steckt und aus der es sich herauszuwinden gilt. Dass die Frauen da keine Hilfe sind, sondern es mit sich wohlmeinend den Karren weiter in den Dreck schieben, liegt auf der Hand. Den Männern bleibt nur, Abstand zu nehmen von der Gefühlsduselei der Vergangenheit, von gemeinsamer Haushaltskasse, vom Dufflecoat im Dreck,damit der Fuß der Dame trocken bleibt, von den ignorierten Wohlgefälligkeiten, den kleinen Aufmerksamkeiten, von dem Etwas-Mehr-Geben. Selbstverwirklichung blablabla. Irgendwo auf der Welt verhungert ein Kind, und du redest von Selbstverwirklichung. Makramee oder was?