Günter Krass - Die Rättin

Zu Weihnachten eine Ratte, das war mein Wunsch, ich wusste nicht Recht ob ich sie als Spielgefährten oder als leckere Vorspeise haben wollte, und indem ich es dachte, drängte sich mir gleichzeitig auf, dass es sich um eine Rättin handeln sollte, nicht nur wegen ihres zarteren Fleisches, sondern weil, wenn nicht als Speise genossen, ich mir vorstellte, dass sie anschmiegsamer sei.
Kurz musste ich eingenickt sein, denn mir träumte, ich hielte ein in heller Sauce geschmortes schönes und schlankes Exemplar in Händen und drückte es mir an die Wange, so als wollte ich alles: Die Speise und Spielgefährtin.
Ich schreckte auf, öffnete die Augen und spürte mein Herz pochen. Wie absurd, ein Wort, das bereits mit weiblichem Artikel stand, noch einmal zu verweiblichen. Und wie nahe das Wort verweichlichen lauerte. Die Rättin als die verweichlichte Form der Ratte, die doch sowieso schon weiblich ist.
Der Ratte. Das ist Genitiv. Rattus. Das Lateinische war hilfreich. Ratta. Die Rättin? Gab es das?
Ich war verwirrt und beschloss, lieber über meine nördliche Pfütze zu schreiben. Das Steinhuder Meer. Vielleicht auch den Dümmer See. Dümmer. Das war so ein schöner Komparativ.
Wenn man rattig steigerte, käme ein "Rattiger" heraus. Und wenn diese Katze nicht täglich ihr Kreuzworträtsel löste, dann müsste man das Wort mit drei t schreiben. Katzen lösen keine Rätsel. Ratttiger.
Ach, die Welt war unüberschaubar. Am einen Ufer des Dümmers konnte ich das andere sehen. Der Dümmer war überschaubar, und wegen seiner Überschaubarkeit liebte ich ihn. Das war nicht dumm.

Franz Gaffka: Der Abzess


Als Gregor Samso eines Morgens nach unruhigen Träumen in seinem Bett aufwachte, fand er sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt. Er vermutete, er sei eine Schmeißfliege, saß an der Zimmerdecke und schaute auf sich herab, oder auf das, was er vorher gewesen war. Sein menschlicher Körper lag in embryonaler Verkrümmung unter der feuchten Bettdecke. Augen und Lippen zuckten, so als träumte der verlassene Körper einen schlechten Traum.
Gregor an der Zimmerdecke erinnerte sich an die letzen Worte seines Vorgesetzten: Sie sind eine Schmeißfliege am Furunkel vom Arsch der Welt.
Gregors Facettenaugen ruckten unruhig hin und her, als ob sie etwas Feindliches entdecken wollten; das Feindliche saß jedoch in seinem Kopf.
Gregor war völlig entfallen, warum der Vorgesetzte diese lange Beleidigung ausgestoßen hatte.
Im Moment des Ausbruchs seines Vorgesetzten hatte er darüber nachgedacht, ob es nicht heißen müsse, am Furunkel des Arsches der Welt, doppelter Genitiv, kompliziert und stilistisch eher fragwürdig.
Der Gebrauch des Dativs - schon wieder Genitiv, dachte Gregor - deutete eher auf einen restringierten Sprachcode hin, eher auf  untere Mittel-schicht mit rücksichtsloser Karrierementalität.
Als Gregor hatte fragen wollen, ob es nicht am Furunkel des Arsches der Welt, also, ob nicht der Furunkel im Genitiv stehen müsse, hatte er sich bereits vor der Tür wiedergefunden und überlegt, ob der Arsch der Welt mittels des Omphagus, des Nabels der Welt, zu ermitteln sei.
Der Nabel der Welt lag in Griechenland, in Delphi, im Apollotempel.
Die Frage war, ob von da aus nach Norden oder Süden, vielleicht aber auch nach Osten oder Westen, möglicherweise auch zwischen diesen zu suchen sei, denn fest stand, dass die Welt sich drehte.
Muss der Furunkel nicht Abzess heißen?, dachte Gregor und rollte mit den Facettenaugen.
Alles wirkte so langsam, so bedächtig, so traurig.
Der Körper im Bett hatte sich erhoben und zur Fliegenklatsche gegriffen.

Brühendheiß fiel Gregor an der Zimmerdecke ein, was die Metapher "Etwas an der Klatsche haben" wirklich bedeutete.  Eine Nano-Sekunde zu spät allerdings.