Vorsätze für das neue Jahr: Keine Tüte mehr auf dem Kopf

Es gibt sie immer noch, die Kategorie Mensch, die glaubt, wenn sie sich eine Tüte über den Kopf zieht, sähe man sie nicht mehr.
Und die dabei völlig nackt ist. Ohne Tüte stiege Schamröte in diesen Menschen auf, da sie sich vielleicht an einem belebten Ort befinden.
Sie glauben sogar, dass sie vollständig bekleidet seien und verschränken selbstbewusst die Arme, so als wollten sie sagen: Was wollt ihr denn? Ihr Angezogenen! Ihr Spießer!
Ich trage ein Kostüm, ein Kleid, einen Anzug aus Papier. Das ist trendy! Aber leider kann mich keiner sehen, weil ich eine Tüte auf dem Kopf trage. Vielleicht sollte ich wenigstens Löcher in die Tüte stechen, damit ihr ein bisschen von meinem Outfit erkennen könnt.

Weg mit diesen Lebenslügen! Weg mit diesem Selbstbetrug!
Das ist ein schöner Vorsatz, besonders für Menschen, die Gefahr laufen, dass man sie in eine geschlossene Institution bringt, damit sei keinen Schaden gegen sich selbst anrichten. Oder gegen andere.
Also, lieber selber Entscheidungen treffen, als dass andere entscheiden. Denn ehrlich gesagt: Die Sache mit der Tüte auf dem Kopf klappt nur, wenn man nicht nackt ist. Aber dann braucht man ja auch keine Tüte.

Glühwein und Transzendenz: Hefeweizen

An der Glühweinbude gibt es immer viel zu lauschen
Paul Aner: Na, das ist aber auch kein Glühwein, Wyatt!
Wyatt Zen: Darum geht es auch gar nicht.
Paul Aner: Aber Glühwein gehört doch zum Winter wie....äh...wie....der Schwanz zum Hund.
Wyatt Zen: Mir geht es mehr um das Spirituelle.
Paul Aner: Da denke ich eher an Sprit. Darum geht's doch beim Glühwein. Dass da Sprit drin ist.
Wyatt Zen: Mir geht es um die Leere.
Paul Aner: Komm, dann wollen wir mal exen!
Wyatt Zen: Du verstehst mich falsch. Die Leere, um sich dann neu füllen zu können. Den Geist frei machen.
Paul Aner: Geist, komm verzähl nix, Wyatt, den Magen, die Leber meinst du, vielleicht die Blase.
Wyatt Zen: Sich leeren, um sich aufs Neue zu füllen, zu empfangen, anzunehmen.
Paul Aner: Ich nehme mal an, dass du das Glas hier nicht aus Versehen in der Hand hältst, oder? Komm, schütt weg das Zeugs, dafür ist es doch gemacht. Kippen, nicht nippen. Auch wenn  das kein Glühwein ist. Den anderen Kram lass dir für Sylvester, da kannst du wieder richtig Vorsätze schmieden, die du dann am 6.Januar elegant brechen kannst, wie jedes Jahr. Aber nicht sentimental werden, von wegen Leere und Geist. Sich leeren, das verträgt sich nicht mit Sprit. Ich muss mal die Blase leeren, aber das ist ja das Fatale, dass an Glühweinbuden nämlich keine Klos sind, das hasse ich so an diesem Rummel, einschütten, wegschütten, zahlen, kassieren. Aber mit Pinkeln? Nitschewo.
Wyatt Zen: Ist ja gut. Jetzt reg dich nicht wieder auf. Geh doch grad hoch zu Hagemeyer, da kannst du umsonst. Und bring ein paar Papierhandtücher mit!
Pauler Aner: Ich bin dann mal kurz weg. Aber nichts zwischendurch trinken! Boah, soviel zusammenhängende Sätze wie eben habe ich das ganz Jahr nicht gesprochen....

Saubere Krimis gefordert

In der Wüste ist nicht viel los

Die UNESCO richtete einen dringenden  Appell an die internationalen Schriftstellerverbände. Romanfiguren sollten nicht mehr in Metropolen und Regionen angesiedelt werden, die von Überbevölkerung betroffen sind. Jeder zusätzliche Bewohner solcher Orte, und sei er fiktiv, würde die schon bestehenden Probleme weiter verschärfen, man denke nur an die Luftverschmutzung, die Probleme bei der Müllbeseitigung und das alltägliche Verkehrschaos. Autorinnen und Schriftsteller sollten zum Beispiel Bangkok ganz von ihrer Liste streichen, vor allem allein reisende Männer aus dem westlichen Ausland sollten hier nicht mehr angesiedelt werden.
Der Appell beträfe aber alle Megacitys in Entwicklungsländern. Es gäbe wunderbare dünn besiedelte Gebiete, in denen eine zusätzliche Romanfigur kein Problem darstelle, ganz im Gegenteil, käme sie als Umweltschützerin, könne sie sich vielleicht sogar nützlich machen. Neben den Polarregionen seien hier auch die Wüsten zu nennen, allerdings sei hier darauf zu achten, dass das Problem des Wassermangels nicht noch verstärkt würde; der Held oder die Heldin müsste entweder das Trinkwasser für die Dauer der Handlung selbst mitbringen oder durch Intuition oder technische Hilfsmittel eine neue unterirdische Wasserquelle aufspüren.
New York bilde eine wichtige Ausnahme, denn nach der Wirtschaftskrise stünden hier etliche Appartements frei, so dass man sich hier sogar Zuwachs erwünschte. Die Schriftsteller selbst dürften auch gleich mitkommen. Subversiv zeigte sich die UNESCO bei der Empfehlung an die Kinderbuchautoren, möglichst viele Kinderfiguren in China unterzubringen, um die Ein-Kind-Politik der chinesischen Regierung zu unterlaufen und Zwangssterilisierten und Entmündigten zu neuem Elternglück zu verhelfen. Trotz der Überbevölkerung Indiens möge man hier viele Mädchen ansiedeln; viele Jungen stünden in späteren Jahren sonst ohne Partnerin da, und wenn es trotz Abtreibungen viele, viele Mädchen gäbe, würde man vielleicht die Tradition der übertrieben hohen Mitgift überdenken und ganz allgemein das Ansehen der Mädchen und Frauen stärken.

Beate spricht mit Jim Beam


Beate hatte ein langes, intensives Gespräch mit Jim Bean geführt, aber sie konnte sich einfach nicht überwinden und ihn trinken. Dazu hätte sie ihren Verstand ausschalten müssen, aber das konnte sie erst nach ein paar Gläsern Jim Bean. Ihr glasklarer Verstand, den Harry so an ihr schätzte, war ihr an diesem Winterabend in Oslo keine Hilfe. Allerdings war er auch kein Hindernis für Beate, er hielt sie nicht davon ab, die Flasche an die Wand ihres Büros zu werfen. Ihre gute Erziehung hielt sie davon ab, einfach nach Hause zu gehen und am nächsten Morgen alle denken zu lassen, Harry hätte im Kampf gegen seine viel zu innige Beziehung zu Jim Bean diesen umbringen wollen. Beate fegte die klebrigen Scherben zusammen, wischte die große Pfütze auf dem Linoleumboden auf und schrubbte die auffälligsten Flecken von der Wand. Danach war aber auch wirklich niemand mehr zum Reden da. Zum Trinken auch nicht. Und zum Denken hatte sogar Beate jetzt mal keine Kraft mehr. Eine dünne rote Linie schien Worte auf ihren Unterarm zu schreiben, eine Linie, die der kleinen Wunde in ihrer Handinnenfläche, in der noch eine Scherbe steckte, entsprang. Aus zwei Wörtern wurde eins, denn die Linie, die sich zielstrebig vorwärts bewegte, konnte sich nicht einfach selbst unterbrechen. „Weiterso“ konnte Beate lesen, bevor das Blut gerann und der kleine warme Strom versiegte. 

Roy Bosch: Nachweihnachtliche Depression (2010/Bopp-Art)

Es sind nicht die rosa Nasen, nicht die grauen Augen oder die blasse, unreine Gesichtshaut, geschweige die viel zu roten Lippen oder gar die blonden Haare.
Es ist oft nur ein Fleck auf der Frisur, der besonders Frauen in die nachweihnachtliche Depression fallen lässt. Die hält meistens bis Sylvester, um dann in die Neujahrstraurigkeit inklusive Weltschmerz und Beziehungsfrust zu wechseln. Aber zwischendurch darf noch mal ordentlich gebechert werden. Ein schwacher Trost für alle Ungetrösteten.

Im Steinteller entdeckt: Norwegerpullover

Ich betrachtete wieder einmal den Steinteller, den ich eigentlich zu Weihnachten hatte verschenken wollen, und entdeckte plötzlich meinen alten Freund Lasse in seinem neuen Norwegerpullover und seinem adretten Schiffchen, das er auf dem schon lichtgewordenen Schädel trug.
In Anbetracht des Alters des Steintellers dachte ich: Wie lange mag das jetzt her sein, dass Lasse den Norwegerpullover neu bekam? Und das Schiffchen? War er damals bei der Norwegischen Bundeswehr? Oder beim Technischen Hilfswerk, damit er gar nicht erst zur Bundeswehr eingezogen werden konnte?
War Lasse ein Wehrdienstverweigerer, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, einen Text für den Untersuchungsausschuss zu verfassen, sondern indem man einfach zur Feuerwehr, oder in seinem Falle, zum Technischen Hilfswerk ging? Mir war der Norwegerpulli damals schon zu fleckig, und die Elche mit ihren großen Geweihen gefielen mir nicht. Was musste eine arme alte Frau daran stricken, ein Muster hinzubekommen, das niemand, vor allem ich nicht, mochte? Ich konnte mich nicht erinnern, dass Lasse jemals gesagt hatte, dass der Norwegerpullover ihm gefiele, geschweige denn die eingestrickten Elche. Vielleicht durfte er bei der Norwegischen Bundeswehr den Pullover gar nicht tragen? Möglicherweise war er aber beim Technischen Hilfswerk, die im Gegensatz zur Bundeswehr ständig irgendetwas montierte oder demontierte, was den neuen Norwegerpullover aber schnell hätte schmuddelig werden lassen, weil ich von Lasse wusste, dass er sich gern die Finger an seinem Pullover  abrieb, wenn sie dreckig waren.
Schön, dass ich den Steinteller doch nicht verschenkt habe, denn er ruft manche schöne oder interessante Erinnerung hervor, auch wenn die Ereignisse schon lange, lange zurückliegen.

Nicht nur Kinderaugen leuchten zur Weihnachtszeit

Er hatte seinen Platz gefunden, heimlich, als kein Mensch hinsah, gab er dem inneren Drängen nach und legte sich inmitten der Schafherde vor die Krippe. Als ob er sein ganzes Leben nach diesem Ort gesucht hätte, ließ er sich hier nieder und wer das Wort Erleuchtung  buchstabieren konnte, war in der Lage das kurzfristige Glimmen in seinen Augen zu erkennen. Schließlich wurden auch Ochs und Esel in der Weihnachtsgeschichte nicht ausdrücklich erwähnt, warum sollte also ein Kater nicht auch dazu gehört haben? In ihm machte sich ein tiefer, innerer Friede breit, ein Gefühl wie eine noch warme Maus im Magen oder ein unschuldiger frisch verspeister Singvogel, ein Gefühl, das ihn von nun an sein Leben lang begleiten sollte, auch wenn er nun ganz schnell aus dem Haus geworfen wurde, weil er in seiner Seligkeit nicht an seine volle Blase gedacht hatte, auch wenn Weihnachten erst wieder in zwölf Monaten sein würde, das Leuchten und die Wärme würden von nun zu seinem Leben gehören wie die Katzenallergie zum kleinen Kevin und die Jungfrauengeburt zum Mythos.

(Gemüsegrafik Lübbecke/Martin Obst 2010)

Was uns Perlenketten sagen wollen, die ein Geschenk verzieren

Manchmal ist ein Geschenk mit einer Perlenkette verziert, die zwar glitzernd-bunt ist, deren Wert jedoch im unteren Segment dümpelt, was ja auch verständlich ist, denn nicht die Kette ist das Geschenk, sondern der Gegenstand, den sie verzieren soll.
Achtlos legen wir den Zierrat dann auf den Küchentisch, um uns ganz dem schönen Geschenk hinzugeben. Es erhält unsere volle Aufmerksamkeit, wir sind ganz Ohr, ganz Auge, ganz Mensch für dieses Geschenk und sitzen vielleicht stundenlang in der Sofaecke, um es zu betrachten.
Dann betreten wir die Küche wieder und sehen auf dem Küchentisch die Perlenkette, die sich durch schicksalshafte Fügung oder von Geisterhand plötzlich in ein Gebilde verformt hat, dass dem frühen Mike Krüger ähnelt.
Was ist passiert? Was will uns die Perlenkette mitteilen?
Eine gute Frage, aber letztlich reicht ein kurzer Fingerwisch, und die Perlenkette liegt wieder in alter Unordnung, denn auch sie muss endlich einmal lernen, dass man nicht ständig Botschaften senden kann, nur weil ein Geschenk den Beschenkten völlig einnimmt, sodass dieser stundenlang in der Sofaecke sitzt und das Objekt blödselig lächelnd betrachtet. Auch eine Perlenkette, die eine Aneinanderreihung von Plastikkugeln ist, hat ihren Platz in der Welt, und der ist nicht auf dem Küchentisch, schon gar nicht in Form des frühen Mike Krüger.

Im Steinteller entdeckt: Der Onkel Fred

Eigentlich hatte ich den Teller verpacken wollen und verschenken zu Heiligabend. Noch einmal hielt ich ihn in der Hand und betrachtete das seltene Stück, das ich in irgendeinem Mineralmuseum im Münsterischen aufgetrieben hatte, schon im Herbst, ungewöhnlich, da ich Weihnachtsgeschenke erst kurz vor dem Fest kaufe.
Dann wurde mir seltsam und ich überlegte, ob denn das Geschenk etwas für die Person sei, die den Teller erhalten sollte. Ich dachte vielmehr an mich, an einen, der Dekoteller im Grunde seines Herzens aus seinem Leben ausgeschlossen hatte.
Und doch, dieser Teller hatte etwas an sich, oder vielleicht in sich, das es mir unmöglich machte, ihn herzuschenken, wie der Bayer so sagt.
Ich begann den Teller genauer zu studieren und entdeckte eine Unmenge kleinster Einschlüsse und Versteinerungen, die die Steinsäge und die Poliertrommel sichtbar gemacht hatten. Und dann wusste ich, warum es mir widerstrebte, den Teller einfach zu verschenken. Da war Onkel Fred. Der lange verstorbene Onkel Fred! Ja, was machte der denn in meinem Steinteller? Onkel Fred, der alte Nörgler und Nösler, der an allem und jedem etwas zu mäkeln hatte, saß hier in meinem Teller. Geschieht ihm recht, war mein erster Gedanke, aber dann wurde ich demütigt und gedachte der vielen zu Unrecht Eingeschlossenen, die vielleicht nicht in einem Teller, wohl aber in einer Zelle festgehalten wurden.
Ich konnte doch Onkel Fred, bzw. was von ihm noch da war, nicht einfach herschenken, nicht hingeben, nicht wegtun unter dem Vorwand der Großzügigkeit.
Ich entschied, das Stück vorerst in meinem Besitz zu belassen, auch wenn ich gar keinen Onkel Fred hatte. Das ist aber eher nebensächlich. Überhaupt: Wie hätte der denn in den Teller kommen sollen? Man kann sich ja in der Vorweihnachtszeit so einiges wünschen, aber alles geht nun doch nicht.

Schwimmen in Bahnen

Lothar schwamm regelmäßig in seiner Bahn im wohnortnahen Schwimmbad. Seine Bahn war Bahn 3 und Lothar wäre niemals auf die Idee gekommen, eine andere Bahn zu wählen. Auch wenn keine schwimmende Abtrennung aus Plastikkugeln die einzelnen Bahnen voneinander trennte, wich Lothar auch nie nur einen Zentimeter von Bahn 3 ab; Lothar war fleischgewordenes Geradeaus. Lothar konnte auch nur geradeaus denken und bevor Katja begann, auf Bahn 1 ihre Bahnen zu ziehen, gab es für Lothar nur diese eine Richtung und Lothar hätte nie darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn er doch einmal … Aber hier funktionierte sein Navigationssystem tadellos, das ihn in seiner perfekten Spur hielt.
Für Lothar war klar, dass man auch im Schwimmbad von Bahnen spricht, weil es so etwas wie Gleise unter der Wasseroberfläche gab, die die Schwimmer in der Spur hielten. Kreuzten übermütige Querschwimmer seine Bahnen, wurde ihm übel und er schloss die Augen. Lothar wollte nicht sehen, was nicht sein durfte. Und doch spürte er einen leichten Rechtsdrall, ein Ziehen, manchmal riskierte er einen Blick zur Seite, war Katja schon in ihrer Bahn, sie könnte doch mal in Bahn 2, dann könnte man ein Wort wechseln … Doch wäre Katja aus ihrer Bahn ausgebrochen, hätte sie es gewagt – für Lothar wäre sie in diesem Moment uninteressant oder vielleicht sogar abstoßend geworden.
Lothar blieb in seiner Bahn, aber er beschäftigte sich beim Schwimmen jetzt mit existenziellen Fragen. Wo war der Bademeister? Welche Rolle spielte er? Konnte er nicht mal künstliche Wellen oder einen Strömungskanal wie im Spaßbad schaffen, die alles durcheinander wirbeln und Lothar die Verantwortung nehmen würden? Oder gab es etwa gar keinen Bademeister? War er nur eine Erfindung, um alle in der Bahn zu halten? Warum ließ der Bademeister es zu, dass Frauen ins Schwimmbad durften? Eines Tages stieg er zum letzten Mal aus dem Wasser, aus seinem Wasser in Bahn 3, und kündigte seine Mitgliedschaft im Schwimmverein. Hätten ihn nicht die existenziellen Fragen dermaßen beschäftigt, hätte er über Langlauf oder Bogenschießen nachdenken können. 

Ted Willjems: Im Land der Plastikfrauen (4)

Frepp, alte Spannschleuder! Du Frauen im Plastikfrauenland werden auch alt, man glaubt es nicht. Wir Fleischlinge unter den Männern im Plastikfrauenland - ich bin noch der einzige im Moment - kennen das auch, der Plastikmann ist hart, wie es sich gehört, überall hart und er bekommt keine schlaffe Haut, weil er gar keine Haut hat. Aber mal ehrlich, Frepp, möchtest du als alter Fleischling sterben und irgendwann sagen, ich habe gar keine Haut gehabt und folglich auch gar keine Falten?
Mein Vater hat immer von gebratenen Hühnern gesagt: Die Haut ist doch das Beste! Warum isst du die denn nicht?
Ich weiß es bis heute nicht, Frepp. Ich kann  auch nicht mehr schreiben, weil ich ziemlich deprimiert bin. Plastikfrauen altern! Das hatte ich mir anders vorgestellt.
Wie, weiß auch nicht genau, schöner eben, aber das kann ich dir erst nächste Mal schreiben, weil ich ziemlich niedergeschlagen bin. Aber das habe ich eben schon geschrieben, woran du erkennen kannst, wie deprimiert ich wirklich bin. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich zurückkomme, also wegkomme aus dem Land der Plastikfrauen, denn Altern haben wir bei uns ja auch, und ich dachte, ....ach, Frepp,...es ist verrückt.

Hast du übrigens herausgefunden, was Gletscherfrisur-Barbie die Tage gemacht hat? Du weißt schon, ich schrieb es dir damals, bzw. vor kurzem.
Gondo
Ein Produkt von
GEMÜSEGRAFIK  Lübbecke
(M.Obst 2010)

Vor dem Nichts stehen

Ich stand vor dem Bild und dachte: Das ist doch nichts. Da ist doch nichts drauf! Was soll das denn sein?
Ich stand wohl eine Stunde und dann dämmerte mir, wie verblendet ich gewesen war.
Wo nichts ist, kann immer noch ein Bisschen sein. Und dieses Kleine, dieses Bisschen wollen wir nicht verleugnen, sondern annehmen als Teil unserer Welt.
Als ich wohl noch eine weitere Stunde gestanden und betrachtet hatte, entdeckte ich plötzlich in diesem Nichts etwas:
Ein bisschen Vogelscheiße, ein paar Zweiglein und mehrere Krümel.
Da wusste ich, dass ich nicht verloren war. Ich hatte wieder zu sehen begonnen, mir waren die Augen aufgetan worden, bloß durch das stundenlange Herumstehen vor einem Bild, auf dem nichts drauf war. Denn es war ja doch was drauf, was ich aber vorher nicht gesehen hatte, weil ich es nicht hatte sehen wollen.
Obwohl ich mich heute ärgere, habe ich das Bild damals gegen gutes Geld gekauft. Dafür hätte ich  schlichtweg ein Wochenende in Berlin in Saus und Braus leben können.
Auf dem Bild ist nämlich wirklich nicht viel drauf; das Bisschen hätte ich auch selber hingekriegt. Vielleicht nicht mit dem Originalvogel, aber ich denke schon.

Wenn die Füße plötzlich warm sind


Als sie morgens aufwachte, wunderte sie sich darüber, dass sie ausnahmsweise mal wieder warme Füße hatte. Erst beim Aufstehen bemerkte sie, dass diese sich in große schwarz-weiß gestreifte Tatzen verwandelt hatten. Sie konnte diese keiner bestimmten Tierart zuordnen und wusste deshalb nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sollte sie schleichen? Oder sprinten? Eher schlurfen oder stolzieren? Sie schaute sich nun regelmäßig Tiersendungen an, aber sie fand keine Lösung. Bald wusste sie auch nicht mehr, was sie essen sollte. Welche Nahrung passte zu ihrem verwandelten Körper? Vielleicht benötigte sie jetzt nur noch Fleisch, rohes natürlich, oder war sie Pflanzenfresserin? Brauchte sie möglicherweise zusätzliche Kraftnahrung? Fraß sie nur Wesen, die sie vorher selbst gejagt und erlegt hatte? Doch die größte Verwirrung verursachte die Frage, ob sie nun nachtaktiv geworden war. Weder Tierärzte noch Humanmediziner konnten ihr eindeutige Antworten geben. Sie wurde unerträglich für ihre Umwelt, sie war weder Huhn noch Hahn, weder Männchen noch Weibchen, weder ein Wildtier noch domestiziert. Die letzten Freunde wandten sich von ihr ab, als sie zu grunzen, zu schnauben, zu wiehern und zu brüllen begann. Dabei hatte sie nur gehofft, ihren Ton zu finden. Gerade dafür hätte sie ihre Freunde so nötig gehabt.

Ted Willjems: Im Land der Plastikfrauen (3)

Frepp, du alter Dumpfhansel, ich schicke dir über das Zeitrohr Post  aus dem Land der Plastikfrauen und du wirst vor Neid erblassen. Ich weiß, das du wieder vor dem Zeitspanner hockst und mir zuschaust, weil du gern hier wärst. So bist du nun mal.
Gestern war ich in einem Tanzlokal, wo man hingeht, um sich rhythmisch zu bewegen, um dann das andere Geschlecht zu treffen und vielleicht schon mal anzufassen - die Plastikkerle sind hart, total hart; ein Fleischling ist da mal was ganz anderes für die Damen - sich dann auf der Tanzfläche hin und her zu schieben und zu testen, ob der Tanzpartner etwas wäre, z.B. für eine lebenslange Bindung oder nur für eine Nacht. Und dann kam sie! Frepp, du blickst es nicht! Gletscherfrisur-Barbie! Neben Gletscherfrisur-Barbie verblassten alle anderen Mädels, so als ob man das Objektiv einer Kamera unscharf stellt. Nur Gletscherfrisur-Barbie scharf, der Rest völlig unscharf, blass, ausgelutscht, nichtssagend. Das Adrenalin schoss mir in die Adern und mein Puls ging auf die 120.
Darf ich bitten?, fragte ich und  Gletscherfrisur-Barbie nickte andächtig, so als habe sie Jahre auf mich gewartet, habe sich für mich aufgehoben. Ich war selig. In dem Moment, wo mir fast das Herz stehen blieb, weil Gletscherfrisur-Barbie mir den Tanz zugesagt hatte, wo ich ihr nahe sein konnte, wie ich ihr nie nahe gewesen war, brüllten die Plastikkerle von Theke: Hey, Gletscherfrisur-Barbie, mal wieder hier? War übrigens schön mit dir gestern!
Das letzte Wort konnte ich nicht verstehen, weil alle etwas anderes brüllten. Vorgestern war dabei, aber auch Vorvorgestern.
Und dann wurden auch die anderen Plastikfrauen wieder scharf, so, als habe jemand am Objektiv gedreht. Ich drehte mit Gletscherfrisur-Barbie ein paar Runden, wir tranken ein paar Cocktails an der Bar, aber irgendwie war ich blockiert, wie paralysiert starrte ich immer auf die hart-gesprayte Gletscherfrisur. Ein Gletscher, der nicht schmolz.
Frepp, alter Gucki, schau dir das mal genau an. Und: Kannst du mal gucken, was  Gletscherfrisur-Barbie  gestern, vorgestern und vorvorgestern so gemacht hat?
Gondo

Tauchunfall

Diese Art von Tauchunfällen kam nur selten vor. Moni hatte Wasser mit Schnee vertauscht, einen Taucherinnenanzug mit sommerlicher Badekleidung und eine professionelle Ausrüstung mit einer einfachen Schwimmbrille. Die Notärztin bestand trotzdem darauf einen Tauchunfall als Auslöser dieses tragischen Unglücksfalles anzugeben. Der junge Rettungssanitäter gab nach. Am Vortag hatte er sich durchgesetzt, als ein alter Mann erfroren im Park gelegen hatte. An der Stelle, an der er von zwei Walkerinnen gefunden wurde, hatte eigentlich eine Parkbank gestanden. Vielleicht hätte er auf ihr überlebt. So hatte der Rettungssanitäter auf Bankraub als Todesursache bestanden.
Seit Wochen ging das nun schon so. Immer kamen sie erst dann an der Unfallstelle an, wenn schon alles zu spät war und niemand mehr notärztlich versorgt oder gerettet werden konnte. Sie stellten nur Totenscheine aus und es war klar, dass das an ihren Nerven zerrte. Es war ein gutes Ritual in diesen harten Zeiten, abwechselnd dem anderen Recht zu geben.

Unterwegs mit Ermittler Harry Höle: Beate

Harry hat die Haare lang






Beate seufzte. Ihr Kollege und Vorgesetzter, Kommissar Harry Höle, hatte sie gelobt. Das kam nicht oft vor, aber inzwischen konnte sie die zwei Wörter, die ein Lob bedeuteten, zweifelsfrei identifizieren. Das hatte ungefähr  drei Jahre gedauert. Obwohl Beate sich eigentlich mit wortkargen, skandinavischen Männern auskannte, denn schließlich war sie umgeben von ihnen. Sie selbst war schließlich auch Skandinavierin und in Oslo gab es nicht viele andere Männer. Aber Harry Hole war ein besonders wortkarges Exemplar, vor allem, wenn es ums Loben ging.  Sie selbst brauchte schon ein paar mehr Worte, um sich verständlich zu machen und um sich Gehör zu verschaffen. Da hatte Harry es leichter, groß und kurzgeschoren wie er war. „Weiter so“ – Beate sollte sich freuen, sie hatte offenbar etwas gut gemacht und das sollte sie fortsetzen, bis nächsten Montag oder bis zum Jahresende oder bis in die Unendlichkeit. Das wollte sie wohl auch gerne. Beate wusste, dass „Weiter so“ vor allem bedeutete, dass sie etwas so gemacht hatte, wie Harry es gemacht hätte. Sie überlegte, ob es sie stören sollte. Ob sie es mit der Gleichstellungsbeauftragten der Osloer Polizeibehörde besprechen sollte. Ob sie sich freuen sollte. Ob sie es zynisch (Harry würde es zickig nennen) kommentieren und einen handfesten Streit mit Harry Hole in Kauf nehmen sollte. Sie wusste es nicht und je länger der Schnee vor ihrem Bürofenster durch einen kräftigen Nordwind verwirbelt wurde, desto gleichgültiger war ihr der Gedanke. Harry war Harry und sie war sie. Oder etwa nicht? In Beates Kopf wirbelten nun auch die Gedanken und sie beschloss, wo sie schon einmal dabei war, ganz nach Harrys Gewohnheit, dieses Wirbeln mit einer Flasche Jim Bean fortzusetzen. Weiter so, Beate.

Das ist Harry Höle

Harry hat die Haare kurz
Kurzfristig hatte sich ein Photo des kürzlich ins klassische Fach umoperierten Keneff Brennecke in die Redaktion geschlichen, um dort als Harry Höle veröffentlicht zu werden. Links kann man den echten Höle sehen, den man an seinem riesigen Gehirn, der Schnüfflernase und den leicht ausladenden Ohren erkennen kann. Da sitzt alles da, wo es ein Ermittler braucht. Der Rest ist nicht mit auf dem Bild.

Günter Krass: Christkind

Damals schon kam ich ins Grübeln, wie es das Christkind überhaupt schaffen konnte, Millionen von Kindern gleichzeitig zu bescheren. Die Eltern erklärten unsicher, dass es wohl Helfer haben müsse, aber wer sollte das sein? Und angeblich kam in unser Haus immer das Originalchristkind. Warum das? Was war Besonderes an diesem Haushalt, dass das Christkind exklusiv zu uns kam und der Rest der Haushalte sich mit Helfern begnügen musste?
Das Christkind hatte überhaupt nichts mit dem kleinen Jesus in der Krippe zu tun. Ein Säugling wäre ja auch gar nicht in der Lage, die Geschenke zu bringen, die zwar nicht übermäßig viele waren, aber schon eine Herausforderung für einen Knirps, der weder laufen, geschweige denn stehen konnte.
Das Christkind war  einen Meter zwanzig groß, plusminus 20 cm, hatte blonde, fast goldene Haare, die gekringelt waren, wie das Engelshaar, das man in der Drogerie kaufen konnte, um den Weihnachtsbaum zu schmücken, es lächelte und würde mich aus hellen, blauen Augen anschauen, wenn ich es denn zu Gesicht bekäme.
Ich bekam es niemals zu Gesicht; das wäre auch fatal gewesen, denn dann hätte es keine Geschenke gegeben und das war schlimmer, als das Christkind nicht sehen zu können.
Das Christkind war gelenkig, beweglich, sportlich, denn es musst irgendwie ins Haus kommen, und zwar nicht über den regulären Weg, sondern unter Umständen auch durch Fenster, sogar wenn diese im zweiten oder gar sechsten Stock lagen.
Das Christkind wusste immer, was ich mir gewünscht hatte. Es war multitaskingfähig, was es damals noch nicht gab, es wusste alles, konnte alles und sah gut aus. Und zwar gleichzeitig.  Manchmal hatte es ein wenig von dem Mädchen, in das ich gerade verliebt war.
Das Christkind war ein Wunder.  Ein Wunder, das alle Ungereimtheiten auflöste, sie versöhnte und in eine wohlgefällige Bescherung verwandelt.
Das Christkind kam immer gegen fünf, weil um sechs gegessen wurde. Da es oft Schnitzel gab, war das Einhalten eines genauen Bescherungsplanes notwendig. Um vier in die Kirche, um fünf das Christkind, um sechs die Schnitzel.
Wenn sich etwas verzögerte, wurden die Schnitzel trocken und zäh, dann war der Vater sauer, der für die Schnitzel verantwortlich war und natürlich als guter Koch gelobt werden wollte.
Das Grübeln wurde irgendwann ein Zweifeln.
In der Volksschule hatte wird das Fach Naturlehre und das stand in direkter Opposition zum Fach Religion.
Die Sache mit dem Christkind konnte nicht stimmen, da gab es zu viele physikalische Ungereimtheiten. Warum fror es in seinem dünnen Kleidchen nicht? Warum glich es eher einem Mädchen, obwohl Jesus ein Junge war? Wie konnte es an verschiedenen Stellen zu gleichen Zeit sein, bi- , nein multilokal sozusagen? Wieso konnte es mit seinem zarten Körper fliegen, wo man doch dafür richtige Muskeln brauchte. Und es kamen religiöse Fragen dazu: Welche Funktion hatte es denn im Himmel, wenn es gar nicht Jesus war? Gab es eventuell mehrere tausend Ausfertigungen des Christkinds?
Die Fragen häuften, stapelten, türmten sich. Ich begann zu zweifeln. Da stimmte was nicht!
Wenn die Geschenke ausgepackt waren, verschwanden die Zweifel. Aber sie kehrten jedes Jahr zurück, und jedes Jahr wurden sie stärker.

Den Zweifel hat der Teufel in die Welt gesetzt, um die Menschen zu prüfen, sagte das Fach Religion. Und wer nicht glaubt und sündigt, der kommt in die Hölle.
Ich wollte nicht in die Hölle, damals nicht, und heute nicht.
Deshalb glaube ich lieber an das Christkind.

Günter Krass: Bravo - Aufschneider

Es muss in den 60ern gewesen sein, wir waren alle interessiert an Verschlossenem und am Aufschneiden und Reingucken. Die Erwachsenen wollten uns keine Antworten auf brennende Fragen. Kondome wurde als Männerschutz in Automaten unter Verschluss gehalten und ein unbedarfter 12jähriger glaubte damals, dass das empfindliche Geschlechtsteil des Mannes beim Sprung vom Drei-Meter-Brett geschützt werden müsse, durch eine Art Tüte eben. Oft waren Kondome aber gar nicht in der Nähe von Drei-Meter-Brettern zu finden, sondern in Kneipen oder an Kiosken, die eher der Befriedigung des Alkoholsbedürfnisses besagter schützenswerter Männer dienten.
Und dann kam die Bravo und klärte junge Menschen auf: Wenn du schon 14, oder schlimmer, schon 16, bist, dann darfst du diese Seiten im Innenteil von Bravo aufschneiden. Hier sollten wertvolle Details enthalten sein, vielleicht sogar Fotos, die die vollständige Menschwerdung des Jugendlichen ermöglichen sollte. Aber, du musst erst 14, oder noch schlimmer, 16, sein, dann darfst du den Mittelteil aufschneiden und reinsehen.
Die Autoritätsgläubigen jener Zeit ließen den verschlossenen Teil natürlich jungfräulich verschlossen, die Draufgänger und Renitenten aber rissen oder schlitzten das Papier ungeduldig auf, um in Dr.Sommers Spezialteil zu kommen, und nahmen dadurch quasi den Akt der Defloration vorweg, ohne zu wissen, wie unsensibel das war. Dr.Sommer würde sie natürlich in seinem Mittelteil eines Besseren belehren.

Am nächsten Tag berichteten Schlitzer angeberisch von diesem geheimen Wissen, das den Schüchternen und Gehorsamen vorenthalten blieb, nein, das sie sich selbst vorenthalten hatten, denn vollständige Menschwerdung setzt auch den Bruch mit der älteren Generation voraus.

Die ungestümen Angeber aber nannte man von da an "Aufschneider", ein Wort, das in seiner eigentlichen Bedeutung kaum noch bekannt ist, und nur noch für männliche Verkäufer an der Wursttheke benutzt wird.

Juni Weh: Die Patientin


Das Telefon klingelt verhältnismäßig mild, es ist ihr Zahnarzt, der ihr sagt, dass sie Schmerzen habe, sie ist ganz seiner Meinung und bedankt sich, erwartet, dass er das Gespräch beendet, doch er sagt, da ist noch was, einen Moment noch, Sie haben noch eine lokale Anästhesie bei mir gut, die würd ich nicht verschenken, sie bedankt sich nochmal und wünscht sich sofort eine Betäubung, nicht nur lokal, nein, Vollnarkose, aber der Gutschein besagt nur lokale Anästhesie, na gut, wenn es mal passt, wird sie ihn einlösen, besser als gar nichts, besser als unbetäubt alles zu sehen und zu hören. Jetzt hat er aufgelegt, sie überlegt noch, ob sie ihn fragt, vielleicht mal eine Ausnahme, vielleicht doch mal die volle Narkose, ohne Aufpreis, einfach so, aber sie hört nur noch ein Rauschen, er redet schon wieder, aber nicht mit ihr und sie kann auch wirklich nur das Rauschen hören. Hätte er nicht angerufen, würde sie sich nicht augenblicklich jetzt auf der Stelle eine Vollnarkose wünschen wie noch nie in ihrem Leben, sie wünschte sich wahrscheinlich nur, dass das Telefon mal wieder klingelt.

Juni Weh: Die Besucherin (3)

Die Besucherin hatte Hunger und Durst. Niemand kam und bot ihr Essen und Trinken an, obwohl sie als Besucherin doch Gast war. Um Gäste kümmerte man sich doch. Das Krankenhaus bot seinen Besuchern nur Stühle in Nischen an. Und doch! Ein Bistro mit Selbstbedienung schien sich zu erbarmen und versprach der erschöpften Besucherin Kaffee und Brötchen. Sie aß und trank und sie gestand sich ein, dass ihr die Rolle der Besucherin nicht mehr gefiel. Die Rolle war zu offen, sie war gefährlich und einfach nicht kontrollierbar. Die Besucherin fühlte sich wohl  im Krankenhaus, aber auch die Rollen des Pflegepersonals und der Patienten wollte sie nicht übernehmen. Sie wollte in diesem kleinen Kosmos bleiben, der zwar voller Überraschungen, aber warm war. Es musste an ihrer Rolle liegen, sie hatte bisher alles falsch gemacht und sich unnötig in Gefahr begeben. Sie brauchte eine andere Rolle, die ihr mehr Schutz gab und die es ihr erlaubte, sich unangetastet in den Gängen und Zimmern zu bewegen. Die Besucherin beschloss Krankenhausseelsorgerin zu werden.

Star Wars in Berlin

Mordred hatte es so satt in diesem blöden Star Wars-Kostüm vor dem Brandenburger Tor in der Sonne zu stehen. Das hatte doch gar keinen Bezug zur Wende und überhaupt keinen zum Mauerfall. Han Solo, wer sollte das sein? Egon Krenz auf keinen Fall, der hatte viel zu dunkle Augenringe, und Chewbacca oder wie man den schrieb, wer sollte das denn sein? Honecker? Der kam ja auch nicht aus dem Osten, genau wie der alte Zottel und verstehen konnte man den auch nicht, wenn der im Zusammenhang sprach. Solo und Chewy, das waren ja auch Helden. Obwohl, Krenz und Honecker: Helden des Sozialismus. Aber wen hatten die denn aus den Fängen des Kapitalismus befreit? Angela Merkel wohl, damit sie die mal anfassen konnten. Welche Frau hätte sich denn sonst von diesen beiden Helden befreien lassen? Naja, die Merkel ist ja jetzt mit dem Westerwelle zusammen, munkelt man, weil der sie in Ruhe lässt und nicht so aufdringlich ist wie der Krenz seinerzeit. Chewy, chirpychirpy cheepcheep. Das war ja damals kapitalistische Ohrenseuche!
Ich glaube, dieser Kampfanzug macht irre.
Mordred hörte das leise Quatschen in den Stiefeln. Im Krieg hätte man das Grabenfüße genannt. Bald würden sie bleich und faulig sein. Daran mochte Mordred nicht denken.
Da! Ein Euro-Stück kassiert! Touristen! Weiter so! Gar nicht so schlecht, der Job. Rumstehen und Geld kassieren. Praktisch Planwirtschaft und Sollerfüllung. Das war echt krenzwertig!

Ted Willjems: Im Land der Plastikfrauen (2)

Das hatte Gondo nicht gesagt, die alte Krampe, dass die Plastikfrauen lila waren. Frepp nahm den Zeitspanner von den Augen und fragte sich, warum Frepp ihm diese grandiose Information vorenthalten hatte. Gondo wollte kassieren, wollte alles für sich, wollte absahnen und endlich im Land der Plastikfrauen der einzige Fleischling sein, herrschen und bestimmen, Frauen in Hülle und ohne Hülle sein eigen nennen, und ihn, Frepp nämlich, neidisch machen.
Das war kein schöner Zug.
Wie oft hatten sie am Ufer des Platsch gesessen und der untergehenden Doppelsonne hinterhergesonnen. Sie hatten philosophiert und sich die Welt voller Plastikfrauen vorgestellt, die nicht dumme Fragen stellten oder Unmengen an Geld für Kosmetik ausgaben, die keinen Schuhtick hatten oder ständig auf die Bahamas fliegen wollten. Plastikfrauen waren still, sagten nur etwas, wenn sie gefragt worden waren oder das Handtuch wackelte, was natürlich nur ein kleiner Scherz aus lang vergangenen Zeiten war. Plastikfrauen waren immer passig, die waren strebsam und sauber, und vor allem: Übersichtlich. Da gab es keine Beziehungskisten zusammenzunageln, da gab es nicht ständig Genösel, weil die Socken im Wohnzimmer lagen. Plastikfrauen waren die Krönung der Schöpfung, wenn man von den fleischlichen Männern einmal absah.
Frepp schreckte auf. Gondo war wer weiß wie weit weg, in die Zeit geschossen vom Zeittschikker, und er hatte es erreicht, vielleicht zufällig, vielleicht von langer Hand geplant, das Land der Plastikfrauen. Das Nirwana. Den Garten Eden. Milch und Honig und Plastikfrauen.
Gondo, Gondo, du bist kein wahrer Freund!
Frepp schraubte an seinem Zeitspanner und versuchte einen Blick auf die Begehrten zu werfen. Lila, lecker Lila, lecker lila Plastikfrauen.

Heinrich Bumm: Nebel 9

Mal wieder richtig lange liegenbleiben und ausruhen, das wäre mal was, so zwei Tage oder länger, verlängertes Wochenende und nichts mehr wissen von dieser unheiligen Welt, dieser widerlichen Arbeit,  dieser trostlosen Beziehung. Trostlos, wie wahr. Wer spendet dir denn Trost, wer kümmert sich um dich? Niemand.
Vieleicht Mutter mit ihrem sorgenvollen Blick, mit ihren manchmal vorwurfsvollen, kurzsichtigen Augen. Sie meint es ja gut, aber Trost, nein,  vielleicht Mitleid. Mitleid, Mitleid, das zieht doch tiefer in den Sumpf.
Zu Hause bleiben und liegen  bleiben, krank sein ohne krank zu sein, die anderen mal sehen lassen, mal arbeiten lassen, mit was er sich herumschlagen musste. Eine Auszeit nehmen, das war Heilung. Zu Hause bleiben, ohne krank zu sein. Das Wissen, Geld zu bekommen, ohne etwas zu tun. Endlich zu bekommen, was einem zusteht. Er musste schon so viel geben und was hatte er nicht alles getan?
Investiert, weggegeben, verschenkt, seine Gefühle, seine Liebe, wie ein Engel war er herumgegangen, geschwebt, hatte gedrückt, geherzt, liebkost, hatte investiert und investiert. Und es war so wenig zurückgekommen. Ein Engel wäre daran zerbrochen. Man kann nicht immer nur geben und geben. Irgendwann geht das nicht mehr.
Jetzt war Zahltag. Heute. Und morgen auch.
Er drehte sich um, und zog das Kopfkissen über die Ohren, um die hässlichen Geräusche aus dem Garten nicht zu hören. Konnte Etti nicht einmal Ruhe geben, wenn er Ruhe brauchte?

Juni Weh: Die Besucherin (2)

Die Besucherin verließ das Patientenzimmer und beschloss, noch eine Weile im Krankenhaus zu bleiben. Ihr gefielen die Ruhe und die Wärme und es gefiel ihr Besucherin zu sein. Sie hatte schon schlechtere Rollen in ihrem Leben übernommen und genoss das Gefühl einer gewissen Überlegenheit, denn Patienten, Ärztinnen und Pfleger konnten nicht einfach jederzeit das Krankenhaus verlassen. Sie konnte, blieb aber noch.
Die Besucherin ging zu einer Nische mit mehreren Sitzgruppen. Sie setzte sich auf einen hellgrünen, modernen Holzstuhl und fragte sich sogleich, ob ihre Entscheidung richtig war, denn es standen auch gelbe und rote zur Auswahl. Viel zu oft hatten andere in ihrem Leben für sie Entscheidungen getroffen und jetzt wollte sie sich von nichts und niemandem beeinflussen lassen. Sie versuchte tief in sich hinein zu hören, auf welcher Farbe sie sitzen wollte, ihr Bauch, ihr ganz eigener Bauch sollte entscheiden, aber sie hörte nur ein leises Magenknurren und spürte eine leichte Panik in sich aufsteigen, weil sie sich nicht entscheiden konnte. Wahrscheinlich hatten andere schon früh bemerkt, dass das nichts war, was selbstständige Entscheidungen herbeiführen konnte und sie ihr deshalb einfach aus der Hand genommen. Wahrscheinlich war das richtig gewesen. Aber es musste doch möglich sein, sich unabhängig und selbstbewusst für einen Stuhl zu entscheiden! Sie spürte, wie die Tränen kamen und das Gefühl, es nicht einmal verdient zu haben, auf nur einem dieser farbenfrohen Stühle zu sitzen.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Die Besucherin blickte auf und sah einen Arzt, mittelgroß, etwas wirres Haar, unrasiert, aber nicht unattraktiv. Sie nickte nur und überlegte, wie sie ihre Tränen vernünftig erklären konnte. Der Arzt trug einen weißen Kittel und Pantoffeln und nahm sehr selbstverständlich auf einem gelben Stuhl Platz. „Wissen Sie, weshalb wir hier sehr viele Patienten behandeln müssen?“, fragte der Arzt. Die Besucherin hätte gern mit ihm über Tauchunfälle gesprochen, aber sie traute sich nicht, und der Mann im weißen Kittel redete gleich weiter. „Tiere! Es gibt so gefährliche Tiere. Vor allem kleine Haustiere, über die man stolpern kann. Ein weithin unterschätztes Problem. Ich habe jetzt endlich eine Forschungsreihe bei der Weltgesundheitsorganisation in Auftrag gegeben. Aber das ist nicht alles.“ Der Arzt schaute die Besucherin nicht direkt an, er wirkte sehr gelassen und die Besucherin mochte das Gefühl, neben einem Arzt in dieser Nische zu sitzen. Andere Besucher und Patienten, die an den Sitzgruppen vorbeikamen, würden denken, dass sie eine gute Bekannte dieses Arztes sei, vielleicht ist er Oberarzt, vielleicht ist er eigentlich auf dem Weg zu einer Notoperation, er wird dringend erwartet, aber diese Frau hier, nein, er konnte nicht einfach weiter gehen, er musste sich zu ihr setzen, das Gespräch mit ihr gab ihm erst die nötige Kraft für die Notoperation. Sie würde dazu beitragen ein Menschenleben zu retten und andere würden sie beneiden und sich fragen, wer diese Frau ist, die einen wichtigen Arzt aufhalten darf. Die Besucherin hatte den größten Teil ihres Lebens im Konjunktiv verbracht, inzwischen versuchte sie nicht mehr, ihn loszuwerden, sondern betrachtete ihn als freundlichen Begleiter. Nun fragte sie den Arzt vorsichtig: „Haie?“ Der Arzt sah sie zum ersten Mal direkt an. „Haie? Ach was. Nur zwei Menschen sterben im Jahr durch Haie. Da sind sogar Blitze gefährlicher. Vier Tote jährlich.“ „Dann … dann sind es vielleicht Schlangen?“ „Ha! Das denken viele. Quatsch! Bienen sind die gefährlichsten Tiere der Welt! Jährlich sterben die meisten Menschen durch Bienenstiche.“ Die Besucherin war beeindruckt, denn das hatte sie nicht gewusst. Es war Winter und sie fragte sich gerade, ob es denn nun im Krankenhaus weniger zu tun gäbe, als der Arzt weiter dozierte. „Aber die meisten Menschen …“ Er unterbrach sich und rückte näher an die Besucherin heran. „Die meisten Menschen verunglücken durch Stühle!“ Die Besucherin bekam einen Schreck, er wusste, welche Stühle gefährlich waren, bestimmt die grünen und er hatte sich auf einen gelben gesetzt, sie musste den Platz wechseln und während die Gedanken rasten und sie eigentlich noch über das Wort Haushaltsunfälle nachdenken wollte, standen plötzlich eine Ärztin und eine Krankenschwester vor ihnen. Beide waren etwas außer Atem und sahen den Arzt ärgerlich an. Dieser räusperte sich und stand zögernd auf. „Herr Beckmann, was machen Sie denn hier? Und wieder mit dem Kittel!“ Die Besucherin war verwirrt, jetzt konnte sie nicht mehr ganz folgen, sie blickte auf die Hausschuhe, die der Mann trug, diesmal hatte ihr Konjunktiv sie offenbar reingerissen, wie peinlich, hatte sie sich so getäuscht? Die Krankenschwester stieß die Ärztin leicht mit dem Ellenbogen an und zeigte mit ihrem Kinn in Richtung der Besucherin und die Ärztin bemerkte, dass sich die Besucherin kurz vor der Auflösung befand. „Entschuldigung, Herr Doktor Beckmann, wir suchen sie schon die ganze Zeit, sie müssen doch zur Not-OP, Sie wissen schon, der Tauchunfall. Tut uns leid, dass wir Ihr Gespräch unterbrechen müssen, aber es ist dringend!“, sagte nun die Ärztin und lächelte die Besucherin an. Die Schwester und die Ärztin nahmen den Mann im weißen Kittel in ihre Mitte und er ließ sich widerstandslos von ihnen wegführen. „Ist schon in Ordnung“, sagte die Besucherin und stand auf. Sie wusste nicht, was bedrohlicher wirkte, leere oder besetzte Stühle.


Bodo war neun

Mit neun war Bodo mindestens das vierte Mal verliebt. Jetzt war es Gudrun, in die er sich verguckt hatte, die er heimlich anbetete, von der er sich immer ein Lächeln erhoffte. Wenn sie dann lächelte, wurde er rot und brachte kein Wort heraus.
Es durfte ja auch nicht auffallen, dass er verliebt war, aber heimlich träumte er schon davon, wie es später mit ihr sein würde, wenn sie erwachsen wären und eine Familie hätten.
Verliebtsein war nichts für Jungs.
Die träumten davon, zum Mond zu fliegen oder eine Eisenbahn zu steuern. Auf keinen Fall  träumten sie von Mädchen, und auf überhaupt keinen Fall davon, verliebt zu sein.
Verliebt sein hieß schwach sein.
Jungen waren stark. Mädchen heulten.
Bodo hatte es nicht leicht mit seinen Gefühlen.
Er durfte seine Liebe nicht zeigen, den Jungs nicht, weil er dann als schwach galt, und Gudrun nicht, weil das nicht in Frage kam.
Viel hatte er nicht von seinem Zustand: Ab und zu ein Lächeln. Rotwerden.

Ted Willjems: Im Land der Plastikfrauen


Gondo hielt den Zeittschikker noch fest in den Händen. Was war das? Wo war er hingeraten? Er schüttelt sich, so, als wolle er den Unglauben, den Zweifel abrieseln lassen.
Alles wirkte so unwirklich und fremd. Das waren Menschen. Menschen von unten. Plastikmenschen. Weibliche Plastikmenschen. Blonde, braune, gelbe, schwarze. Wahnsinn. Gondo fasste seinen Zeittschikker fester. Was konnte passiert sein? Hatte er einen Fehler gemacht? Wo war er denn?
Das waren weibliche Plastikmenschen von unten. Von unten! Donnerwetter, schoss es durch seinen gequälten Schädel. Das hieß, er war unter den Plastikfrauen und konnten von unten nach oben schauen. Die merkten das nicht einmal. Wo dich jeder wusste, dass sich Frauen nicht gern von unten nach oben beschauen ließen. Schon gar nicht von unter der Erde, und dass dann die Erde noch durchsichtig war. Der Wahnsinn. Wenn Gondo das Frepp erzählte, der würde das nicht glauben. Aber Frepp war weit weg, oder lang weg, vielleicht nahe bei, aber in einer ganz andere Zeit.
Komische Schuhe tragen die, dachte Gondo, und unter den Röcken ist es dunkel. Gondo versuchte sich nach links zu drehen, aber er saß fest. Überall Plastikfrauen. Süße, leckere Plastikfrauen? Sie bewegten sich fast gar nicht, oder, wenn man es genau nahm, überhaupt nicht. Frepp würde das nicht glauben. Aber schick sahen die schon aus. Gondo wollte der Langhaarigen an den Schuh fassen, aber seine Hand, die sich vom Zeittschikker gelöst hatte, stieß gegen Hartes, wie gegen Glas.
Er saß fest. Das Paradies vor Augen, und er saß fest. Frepp würde vor Schadenfreude grinsen. Das konnte er nicht zulassen. Frepp, der Klugscheißer, hatte ihn gewarnt: Die neuen Zeittschikker sind nicht ausgereift, Gondo, lass die Finger davon. Gondo hatte nicht die Finger davon lassen können. Endlich konnte er in eine Zeit reisen, in der die Frauen aus Plastik waren. In der Dunkelheit unter den Röcken herrschte.
Gondo saß fest, das war klar.
Und Frepp war lang weg.

Günter Krassl: Nikolausmasken

Am 6. Dezember kramten wir unsere Nikolausmasken hervor und die Kopfkissenbezüge, um uns für das jährliche Absingen des Liedes „Hier wohnt ein reicher Mann, der uns was geben kann, hoch soll er leben, hoch soll er sterben und das ganze Himmelreich erben“ vorzubereiten
Wir kannten und konnten nur dieses Lied zu diesem Anlass und es reichte immer vor den Haustüren, dass die  Menschen unsere Leinensäcke füllten.
Das Tempo war zügig, wir wollten keine Zeit verlieren, damit wir unseren festen Bezirk in zwei Stunden abgeklappert hatten.
Gut waren eingepackte Süßigkeiten; Obst in Form von unschälbaren, mit Kernen gespickten Apfelsinen oder krümelnde Kekse waren ärgerlich. Im Grunde hatte wir dann umsonst gesungen, vergebens, man enthielt uns unseren Lohn vor. Ein böser Traum konnte auch Wirklichkeit werden: Überreifes Obst war zerquetscht und bildete mit zerbröselten Krümelkeksen eine üble Mischung, die sich unter den Fingernägeln festsetzte, wenn man die Beute später sichten wollte.
So teilten wir die Menschen damals schon in Gut und Böse, in Großzügige und Kleinmütige: Wer etwas gab, sollte nicht die Reste vom Vorjahr bequem entsorgen, sondern gute, frische, eingepackte Leckereien in den Beutel tun, vielleicht auch etwas Geld, das konnte nicht verderben.
Die Kleinmütigen mit ihrem Obstkrümelschlamm konnten das Himmelreich auf keinen Fall erben. 

Teekesselchen im Plural

Manche Teekesselchen treffen sich nur im Plural. Der Plural ist kein Gebirge, das zwei Kontinente voneinander trennt, sondern ein eher unspektakulärer Ort. Für Menschen mit eher eindimensionalem Wahrnehmungsvermögen stellt sich der Plural schon mal als gefliester Raum dar. Wer bisher der Meinung war, dass unverhoffte Begegnungen nur im Konjunktiv stattfinden, lernt dazu.

Tipp von Bodos Welt:
Es sind nicht Signaltrompeten.
Auch Tröten passt nicht.

Kurts Geschichte: Kevin

Kevin stand vor dem grauen Gebäude. Im Garten spielten Kinder Verstecken, saßen auf Rutschen oder buken Sandkuchen in Plastikförmchen.
Kevin kannte die Kinder nicht, und er wollte sie auch nicht kennen lernen.
Zu viel Geschrei, zu viel Gerenne. Zu viel Geflenne.
Dahinten heulte ein Junge, weil ihm ein Mädchen eine Schaufel mit Sand ins Gesicht geworfen hatte.
Kevins Eltern wollten, dass er in den Kindergarten ging.
Aber er hatte seine Sachen gepackt. 
Kinderkram war das hier.
Er war schon fünf.
Kinderkram. Kinderkacke. Nichts für Kevin.
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging nach Hause.

Täuschungen entgegenwirken

Wer heute glaubt, er werde endlich von wildgewordenen Vögeln angegriffen, um sich ihrer in echter Hitchcockmanier zu erwehren, hat sich getäuscht. Einmal gibt es diese Mengen an Vögeln nicht mehr und zweitens sind sie nicht schlau genug, um sich zusammenzurotten und andere anzugreifen.
Das schaffen zumindest rechtsorientierte Männer mit fehlendem Haar. Damit steht der Intelligenzquotient unter dem der vorgenannten Gruppe.
Vögel sind dümmer als Neonazis?
Klingt irgendwie falsch. Aber es stimmt. Vögel können sich keine Springerstiefel anziehen und wissen auch nicht, wie man eine Bomberjacke anzieht. Den deutschen Gruß kriegen sie auch nicht hin. Dafür können die Männer nicht fliegen.
Sieht man sich also einem einsamen Vogel konfrontiert, der auf einen zufliegt, nicht gleich denken, es handele sich um einen Angriff mutierter Wesen, vielleicht in der Nähe eines Atomkraftwerkes!
Vielmehr sollte man sich über grüne Plastikstühle Gedanken machen, auf denen man nicht nur sitzt, sondern von denen man auch dreihundertfach umgeben ist!
Sollte der einsame Vogel Springerstiefel tragen, sucht man das Weite und informiert den Verfassungsschutz.

Juni Weh: Schlafanzüge in Krankenzimmern / Die Besucherin (1)


Als Besucherin versuchte sie sich leise und unauffällig zu bewegen. Es war eng im Krankenzimmer, die Besucherin hatte nicht gewusst, dass es noch Vierbettzimmer gab, die Luft war schlecht, zwei Fernsehgeräte liefen, drei Patienten mit Kopfhörern starrten auf die Bildschirme, kein Medikament hätte sie besser ruhig stellen können. Der Patient, der nun Besuch hatte, musste seinen Kopf vom Bildschirm wenden und der Besucherin Auskunft über sein Befinden, die Diagnose, das Essen, die Nächte und andere Besucher geben. Er tat das bereitwillig. Er trug einen hellblauen Pyjama, einen typischen hellblauen Schlafanzug für ältere Herrren, den die Besucherin nun eingehender betrachtete. Knapp über dem Herz des Patienten war eine Aufschrift platziert, „Adventure“, aber die Besucherin wusste, dass das Herz dieses Mannes keinerlei Abenteuer vertragen würde. Sie überlegte, ob sie ihn darauf hinweisen sollte, aber ihre Sorge kam ihr übertrieben vor, außerdem konnte der Patient kein Englisch, also würde wohl nichts passieren.
Verstohlen blickte sie sich im Zimmer um und fragte sich, welche Krankheiten die anderen Männer hatten. Es gab keine sichtbaren Verletzungen, keine Verbände, keine verkrampften Hände, die irgendein Körperteil oder eine bestimmte Region umklammerten. Die Besucherin sagte, dass sie einen Stuhl holen wolle, aber nur, um einem der anderen Betten möglichst nahe zu kommen, sie nickte dem älteren Herren darin freundlich zu, doch der schaute nur zum Fernsehgerät und sie konnte einen schnellen Blick auf seinen dunkelblauen Schlafanzug erhaschen, der mit roten Paspeln abgesetzt war, eine durchaus elegante Version des Pyjamas für Männer über sechzig im Krankenhaus. Zwischen zwei roten Paspeln stand in hellblauen Blockbuchstaben „Diving in the oceans“, zwei stilisierte Wellenbögen ebenfalls in hellblau betonten dieses Motto und die Besucherin glaubte einen Moment lang tatsächlich, hier das Opfer eines Tauchunfalls zu sehen, bis ihr bewusst wurde, dass sie einen Denkfehler beging, denn auf dieser Station kümmerte man sich bestimmt nicht um diese Art von Verletzungen, außerdem war das Meer viel zu weit weg.
Der dritte Patient auf dem Zimmer trug einen Jogginganzug und symbolisierte auf diese Weise den Übergang zwischen Kranken und Gesunden, die nicht nur gesund, sondern auch noch körperlich trainiert sind. Das erklärte den leicht arroganten Gesichtsausdruck dieses Mannes. Für ihre Betrachtungen und wegen der gewissen Arroganz war dieser Patient für die Besucherin uninteressant und sie konzentrierte sich auf den vierten Kranken, der scheinbar der älteste war und klein und zusammengesackt im Bett lag. Die Besucherin griff nach einer Mandarine, die auf dem Tisch ihres eigentlichen Patienten lag, und ließ diese scheinbar unbeabsichtigt fallen. Die Mandarine rollte bis vor das Bett des kleinen, schwachen Mannes, der nur durch Augenschlitze auf den Fernsehapparat an der Wand blickte. Auch er beachtete sie nicht weiter, als sie auf Knien die Mandarine wiederholte und dabei schon weitaus mutiger seinen Schlafanzug in Augenschein nahm. Dieser wirkte durch die Farbgestaltung in beige und braun altmodisch, doch auch hier hatten Textildesigner versucht, durch einen entsprechenden Aufdruck für Frische oder einen leicht sportlichen Eindruck zu sorgen. Die Besucherin saß noch in den Knien, sie wankte etwas und spürte leichte Übelkeit, als sie ihn gelesen hatte, sie kannte nur Schlafanzugaufdrucke in englischer Sprache, auf ihren eigenen zu Hause stand „Love“ oder „Meet me in the open space“, aber diesen hier konnte sie zunächst gar nicht begreifen, obwohl oder besser weil er in ihrer Muttersprache in leicht schrägen, elegant geschwungenen, olivfarbenen  Buchstaben auf den hellbraunen Stoff gedruckt war.

Was liest die Besucherin? Wer schlägt einen Schlafanzugaufdruck vor? Verlässt sie lebend das Krankenzimmer?

Auragucken

So soll es sein, sagt der Esoteriker: Auragucken an Gegenständen.
Übung dazu: Sektkübel mit Flasche und  Gläsern so lange anstarren, oder besser - danebenstarren, bis ein paar Farben erscheinen. Weiß gilt nicht wirklich als Farbe, höchstens für Unterwäsche. Lila ist abgegriffen, und Orange ziemlich banane, also Gelb.
Fortgeschrittene gucken in Rosameliert oder Grünblaupepita.
Hauptsache, nicht den Sekt auskübeln, damit die Farben schneller kommen!

Kein Trinkwasser für alle


Nach dem Erfolg von „Kein Trinkwasser“-Schildern in Köln und Umgebung soll jetzt das Angebot erweitert werden:
„Kein Taschengeld“ und „Kein Toilettenpapier“ soll an Sparkassen und unter Brücken befestigt werden, „Kein Lust“ und „Kein Ahnung“ vor der Stadtverwaltung.
„Kein Abel“ ist aber gerade in der Adventszeit ein schönes Schild für den Kölner Dom.

Pawel Pikass: Rote Fingernägel (2010)

Man fragt sich als ästhetischer Mensch, wie dieser Pikass an die Öffentlichkeit gelangte und zu Ruhm gekommen sein kann?
Schön, manchmal verzerrt der Meister an sich ja schon mal was, aber Pikass ist Meister der schlechten Darstellung.
Die Fingernägel  sind an der falschen Seite  der Hand angemalt, die Augen wirken wie aufgestickt und der Versuch, eine weibliche Brust zu malen, erinnert an die Tränensäcke von Derrick nach durchzechter Nacht.
Bitteschön: Kein Geld für so was ausgeben! Nicht einmal zu Weihnachten.

Essen mit Kindern: Wok zu Heiligabend

Tiere feiern kein Weihnachten, denn sie sind ja nicht getauft. Diese schlichte Botschaft kann Kindern zeigen, dass Tiere nicht nur zum Spielen da sind, sondern auch Nahrung sein können.
Aber, warum immer die anonyme Bratwurst, den Hamburger oder die Dönertasche auf den Tisch bringen, wenn es preiswerte und vor allem interessante Alternativen gibt?
Mucki hat drei Jahre den Spielkameraden gegeben und seine Streicheleinheiten empfangen, die das Fleisch besonders zart machen. Im Wok wäre er eine Starbesetzung; da erblasst selbst Stefan Raab vor Neid, weil ihm die Show am Festtagstisch gestohlen wird. Wer allerdings scheut, dem Hinscheiden eines lieb gewonnenen Stallhasen beizuwohnen, vor allem, wenn dieser nicht fachgerecht herbeigeführt wird, sollte auf die Tiefkühltruhe zurückgreifen und den Kindern erklären, dass hier Verkehrstote aus dem Tierreich einem sinnvollen Zweck zugeführt werden.
Man kann ja immer noch bei einem Roten still der gequälten Kreaturen in europäischen Massenmastbetrieben gedenken.

Rotstift regiert

 Die Schwarzgelbe meint es ernst: Immer mehr wird zusammengestrichen, was früher noch als normal galt, gibt es jetzt nicht mehr. Besonders Jugendliche und Kinder werden betroffen sein.
Kurze Texte? Gestrichen. Filmkamera? Gestrichen. Schüssel? Gestrichen.
Ringelpulli? Gestrichen.
Mikrofon? Gestrichen.
Alles, was früher als unentbehrlich galt - wer ging schon ohne Kamera und Ringelpulli aus dem Haus?- wird so zum Luxusgut.
Und warum das Ganze? Ursula von der Leihen soll sparen, sparen, sparen. Das mit streichen, streichen, streichen gleichzusetzen, könnte die Maler- und Anstreichergilde beglücken, vielleicht auch den Finanzminister, der dann mehr Geld für etwas anderes hätte, aber das Volk wird daran unglücklich. Was bleibt denn noch? Ein gestreiftes Baumwollhemd und eine runde Plastikplatte, ein paar Gitterstäbe und ein Kabel mit Stecker; Dinge, auf die man geräuschlos verzichten könnte.
Sogar der Rotstift soll gestrichen werden. Und- ehrlich gesagt- da hört es doch spätestens auf.

Plastiniert oder plastisch korrigiert?

Sozial engagierteSchönheitschirurgen bemühen sich, die in der Ausstellung Körperwelten verunstalteten Leichen wieder einigermaßen hinzubekommen. Ihr entmenschlichtes Aussehen soll wieder dem normalen Schönheitsideal angepasst werden. Da aber kaum Privatpatienten unter den Exponaten sind, ein Großteil nicht einmal eine Krankenversicherung hatte, laufen die Bemühungen mangels hochwertigen Reparaturmaterials noch etwas untertourig.

Gefallen

Er war wieder durch die Roste gefallen. Fünfzehnter Versuch. Der Personalmensch war aber auch eine arrogante Aktentasche gewesen. Feuermelder. Reinhauen und weglaufen.
Oder hieße es der Rost? Durch den Rost gefallen. Grillrost. Rohe Leber fiel gern durch den Rost in die Glut und verdampfte da. Verqualmte. Verbrannte, genau. Aber, der Rost? War das nicht das Rotbraune auf Eisen?
Man hatte ihn ausgesiebt. Durchs Sieb gefallen, wie das klang. Was gibt dreimal sieben? Hahaha, auf keinen Fall einundzwanzig! Ganzen feinen Sand gibt das. Gehörte er jetzt zu dem feinen Sand, der durch die Roste gefallen war, oder zu den Brocken, die oben drin geblieben waren? Nach dem Sieben. Genau: Dreimal Sieben musste groß geschrieben werden. Dreimal sieben als Rechenaufgabe klein. Ob der Personalchef, diese Ratte mit der kalten Schnauze, das wusste? Rechtschreibung. Ein Auslesekriterium, hatte es immer geheißen.  Keine Fehler machen im Anschreiben bei der Bewerbung, im Lebenslauf. Auslese. Ja, lesen konnte das jeder. Da war kein Fehler drin. Auch ohne Rechtschreibprogramm.
Ausbildung machen, jawoll. Gut abschneiden. Der Aktentasche mal die Schnallen abschneiden! Symbolische Kastration. Mehr was für Frauen. Weiberfaßnacht.
Durchgefallen. Durchfall. Scheiße.
Ob Roste oder Rost, er gehörte bald zum alten Eisen.

Gefangen in Raum und Zeit

Gefangen sein in Raum und Zeit, das ist das Los der Vergänglichen und auch der Ewigen, vor allem der Ewiggestrigen.
Da mag der Raumpfleger ruhig seine Stulle essen oder eine Tasse Tee trinken, ein Gebot der Ruhe gibt es nicht, vielmehr heißt es nicht länger stillhalten, sondern frisch ans Werk!
Die Zeit macht eigentlich keine Gefangenen und momentan ist sie auch nicht da, denn sie davongelaufen, weil sie keinen Stillstand kennt. Ein weiterer Aufruf zur Eigenbewegung also!
Raumpfleger, magst ruhig sein, du bist nicht der Wächter der Gefangenen, die zu blöd sind, sich selbst zu befreien. Niemand hat je angedeutet, Raum und Zeit könnten in der Lasge sein, irgendwen gefangen zu nehmen. Also, hopphopp, um neun müsst ihr zu Hause sein! Um halb zehn ist die Hose kalt und es wird geschlafen! Dass das mal klar ist.