Juni Weh: Schlafanzüge in Krankenzimmern / Die Besucherin (1)


Als Besucherin versuchte sie sich leise und unauffällig zu bewegen. Es war eng im Krankenzimmer, die Besucherin hatte nicht gewusst, dass es noch Vierbettzimmer gab, die Luft war schlecht, zwei Fernsehgeräte liefen, drei Patienten mit Kopfhörern starrten auf die Bildschirme, kein Medikament hätte sie besser ruhig stellen können. Der Patient, der nun Besuch hatte, musste seinen Kopf vom Bildschirm wenden und der Besucherin Auskunft über sein Befinden, die Diagnose, das Essen, die Nächte und andere Besucher geben. Er tat das bereitwillig. Er trug einen hellblauen Pyjama, einen typischen hellblauen Schlafanzug für ältere Herrren, den die Besucherin nun eingehender betrachtete. Knapp über dem Herz des Patienten war eine Aufschrift platziert, „Adventure“, aber die Besucherin wusste, dass das Herz dieses Mannes keinerlei Abenteuer vertragen würde. Sie überlegte, ob sie ihn darauf hinweisen sollte, aber ihre Sorge kam ihr übertrieben vor, außerdem konnte der Patient kein Englisch, also würde wohl nichts passieren.
Verstohlen blickte sie sich im Zimmer um und fragte sich, welche Krankheiten die anderen Männer hatten. Es gab keine sichtbaren Verletzungen, keine Verbände, keine verkrampften Hände, die irgendein Körperteil oder eine bestimmte Region umklammerten. Die Besucherin sagte, dass sie einen Stuhl holen wolle, aber nur, um einem der anderen Betten möglichst nahe zu kommen, sie nickte dem älteren Herren darin freundlich zu, doch der schaute nur zum Fernsehgerät und sie konnte einen schnellen Blick auf seinen dunkelblauen Schlafanzug erhaschen, der mit roten Paspeln abgesetzt war, eine durchaus elegante Version des Pyjamas für Männer über sechzig im Krankenhaus. Zwischen zwei roten Paspeln stand in hellblauen Blockbuchstaben „Diving in the oceans“, zwei stilisierte Wellenbögen ebenfalls in hellblau betonten dieses Motto und die Besucherin glaubte einen Moment lang tatsächlich, hier das Opfer eines Tauchunfalls zu sehen, bis ihr bewusst wurde, dass sie einen Denkfehler beging, denn auf dieser Station kümmerte man sich bestimmt nicht um diese Art von Verletzungen, außerdem war das Meer viel zu weit weg.
Der dritte Patient auf dem Zimmer trug einen Jogginganzug und symbolisierte auf diese Weise den Übergang zwischen Kranken und Gesunden, die nicht nur gesund, sondern auch noch körperlich trainiert sind. Das erklärte den leicht arroganten Gesichtsausdruck dieses Mannes. Für ihre Betrachtungen und wegen der gewissen Arroganz war dieser Patient für die Besucherin uninteressant und sie konzentrierte sich auf den vierten Kranken, der scheinbar der älteste war und klein und zusammengesackt im Bett lag. Die Besucherin griff nach einer Mandarine, die auf dem Tisch ihres eigentlichen Patienten lag, und ließ diese scheinbar unbeabsichtigt fallen. Die Mandarine rollte bis vor das Bett des kleinen, schwachen Mannes, der nur durch Augenschlitze auf den Fernsehapparat an der Wand blickte. Auch er beachtete sie nicht weiter, als sie auf Knien die Mandarine wiederholte und dabei schon weitaus mutiger seinen Schlafanzug in Augenschein nahm. Dieser wirkte durch die Farbgestaltung in beige und braun altmodisch, doch auch hier hatten Textildesigner versucht, durch einen entsprechenden Aufdruck für Frische oder einen leicht sportlichen Eindruck zu sorgen. Die Besucherin saß noch in den Knien, sie wankte etwas und spürte leichte Übelkeit, als sie ihn gelesen hatte, sie kannte nur Schlafanzugaufdrucke in englischer Sprache, auf ihren eigenen zu Hause stand „Love“ oder „Meet me in the open space“, aber diesen hier konnte sie zunächst gar nicht begreifen, obwohl oder besser weil er in ihrer Muttersprache in leicht schrägen, elegant geschwungenen, olivfarbenen  Buchstaben auf den hellbraunen Stoff gedruckt war.

Was liest die Besucherin? Wer schlägt einen Schlafanzugaufdruck vor? Verlässt sie lebend das Krankenzimmer?