Günter Krass: Bravo - Aufschneider

Es muss in den 60ern gewesen sein, wir waren alle interessiert an Verschlossenem und am Aufschneiden und Reingucken. Die Erwachsenen wollten uns keine Antworten auf brennende Fragen. Kondome wurde als Männerschutz in Automaten unter Verschluss gehalten und ein unbedarfter 12jähriger glaubte damals, dass das empfindliche Geschlechtsteil des Mannes beim Sprung vom Drei-Meter-Brett geschützt werden müsse, durch eine Art Tüte eben. Oft waren Kondome aber gar nicht in der Nähe von Drei-Meter-Brettern zu finden, sondern in Kneipen oder an Kiosken, die eher der Befriedigung des Alkoholsbedürfnisses besagter schützenswerter Männer dienten.
Und dann kam die Bravo und klärte junge Menschen auf: Wenn du schon 14, oder schlimmer, schon 16, bist, dann darfst du diese Seiten im Innenteil von Bravo aufschneiden. Hier sollten wertvolle Details enthalten sein, vielleicht sogar Fotos, die die vollständige Menschwerdung des Jugendlichen ermöglichen sollte. Aber, du musst erst 14, oder noch schlimmer, 16, sein, dann darfst du den Mittelteil aufschneiden und reinsehen.
Die Autoritätsgläubigen jener Zeit ließen den verschlossenen Teil natürlich jungfräulich verschlossen, die Draufgänger und Renitenten aber rissen oder schlitzten das Papier ungeduldig auf, um in Dr.Sommers Spezialteil zu kommen, und nahmen dadurch quasi den Akt der Defloration vorweg, ohne zu wissen, wie unsensibel das war. Dr.Sommer würde sie natürlich in seinem Mittelteil eines Besseren belehren.

Am nächsten Tag berichteten Schlitzer angeberisch von diesem geheimen Wissen, das den Schüchternen und Gehorsamen vorenthalten blieb, nein, das sie sich selbst vorenthalten hatten, denn vollständige Menschwerdung setzt auch den Bruch mit der älteren Generation voraus.

Die ungestümen Angeber aber nannte man von da an "Aufschneider", ein Wort, das in seiner eigentlichen Bedeutung kaum noch bekannt ist, und nur noch für männliche Verkäufer an der Wursttheke benutzt wird.