Juni Weh: Die Besucherin (2)

Die Besucherin verließ das Patientenzimmer und beschloss, noch eine Weile im Krankenhaus zu bleiben. Ihr gefielen die Ruhe und die Wärme und es gefiel ihr Besucherin zu sein. Sie hatte schon schlechtere Rollen in ihrem Leben übernommen und genoss das Gefühl einer gewissen Überlegenheit, denn Patienten, Ärztinnen und Pfleger konnten nicht einfach jederzeit das Krankenhaus verlassen. Sie konnte, blieb aber noch.
Die Besucherin ging zu einer Nische mit mehreren Sitzgruppen. Sie setzte sich auf einen hellgrünen, modernen Holzstuhl und fragte sich sogleich, ob ihre Entscheidung richtig war, denn es standen auch gelbe und rote zur Auswahl. Viel zu oft hatten andere in ihrem Leben für sie Entscheidungen getroffen und jetzt wollte sie sich von nichts und niemandem beeinflussen lassen. Sie versuchte tief in sich hinein zu hören, auf welcher Farbe sie sitzen wollte, ihr Bauch, ihr ganz eigener Bauch sollte entscheiden, aber sie hörte nur ein leises Magenknurren und spürte eine leichte Panik in sich aufsteigen, weil sie sich nicht entscheiden konnte. Wahrscheinlich hatten andere schon früh bemerkt, dass das nichts war, was selbstständige Entscheidungen herbeiführen konnte und sie ihr deshalb einfach aus der Hand genommen. Wahrscheinlich war das richtig gewesen. Aber es musste doch möglich sein, sich unabhängig und selbstbewusst für einen Stuhl zu entscheiden! Sie spürte, wie die Tränen kamen und das Gefühl, es nicht einmal verdient zu haben, auf nur einem dieser farbenfrohen Stühle zu sitzen.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Die Besucherin blickte auf und sah einen Arzt, mittelgroß, etwas wirres Haar, unrasiert, aber nicht unattraktiv. Sie nickte nur und überlegte, wie sie ihre Tränen vernünftig erklären konnte. Der Arzt trug einen weißen Kittel und Pantoffeln und nahm sehr selbstverständlich auf einem gelben Stuhl Platz. „Wissen Sie, weshalb wir hier sehr viele Patienten behandeln müssen?“, fragte der Arzt. Die Besucherin hätte gern mit ihm über Tauchunfälle gesprochen, aber sie traute sich nicht, und der Mann im weißen Kittel redete gleich weiter. „Tiere! Es gibt so gefährliche Tiere. Vor allem kleine Haustiere, über die man stolpern kann. Ein weithin unterschätztes Problem. Ich habe jetzt endlich eine Forschungsreihe bei der Weltgesundheitsorganisation in Auftrag gegeben. Aber das ist nicht alles.“ Der Arzt schaute die Besucherin nicht direkt an, er wirkte sehr gelassen und die Besucherin mochte das Gefühl, neben einem Arzt in dieser Nische zu sitzen. Andere Besucher und Patienten, die an den Sitzgruppen vorbeikamen, würden denken, dass sie eine gute Bekannte dieses Arztes sei, vielleicht ist er Oberarzt, vielleicht ist er eigentlich auf dem Weg zu einer Notoperation, er wird dringend erwartet, aber diese Frau hier, nein, er konnte nicht einfach weiter gehen, er musste sich zu ihr setzen, das Gespräch mit ihr gab ihm erst die nötige Kraft für die Notoperation. Sie würde dazu beitragen ein Menschenleben zu retten und andere würden sie beneiden und sich fragen, wer diese Frau ist, die einen wichtigen Arzt aufhalten darf. Die Besucherin hatte den größten Teil ihres Lebens im Konjunktiv verbracht, inzwischen versuchte sie nicht mehr, ihn loszuwerden, sondern betrachtete ihn als freundlichen Begleiter. Nun fragte sie den Arzt vorsichtig: „Haie?“ Der Arzt sah sie zum ersten Mal direkt an. „Haie? Ach was. Nur zwei Menschen sterben im Jahr durch Haie. Da sind sogar Blitze gefährlicher. Vier Tote jährlich.“ „Dann … dann sind es vielleicht Schlangen?“ „Ha! Das denken viele. Quatsch! Bienen sind die gefährlichsten Tiere der Welt! Jährlich sterben die meisten Menschen durch Bienenstiche.“ Die Besucherin war beeindruckt, denn das hatte sie nicht gewusst. Es war Winter und sie fragte sich gerade, ob es denn nun im Krankenhaus weniger zu tun gäbe, als der Arzt weiter dozierte. „Aber die meisten Menschen …“ Er unterbrach sich und rückte näher an die Besucherin heran. „Die meisten Menschen verunglücken durch Stühle!“ Die Besucherin bekam einen Schreck, er wusste, welche Stühle gefährlich waren, bestimmt die grünen und er hatte sich auf einen gelben gesetzt, sie musste den Platz wechseln und während die Gedanken rasten und sie eigentlich noch über das Wort Haushaltsunfälle nachdenken wollte, standen plötzlich eine Ärztin und eine Krankenschwester vor ihnen. Beide waren etwas außer Atem und sahen den Arzt ärgerlich an. Dieser räusperte sich und stand zögernd auf. „Herr Beckmann, was machen Sie denn hier? Und wieder mit dem Kittel!“ Die Besucherin war verwirrt, jetzt konnte sie nicht mehr ganz folgen, sie blickte auf die Hausschuhe, die der Mann trug, diesmal hatte ihr Konjunktiv sie offenbar reingerissen, wie peinlich, hatte sie sich so getäuscht? Die Krankenschwester stieß die Ärztin leicht mit dem Ellenbogen an und zeigte mit ihrem Kinn in Richtung der Besucherin und die Ärztin bemerkte, dass sich die Besucherin kurz vor der Auflösung befand. „Entschuldigung, Herr Doktor Beckmann, wir suchen sie schon die ganze Zeit, sie müssen doch zur Not-OP, Sie wissen schon, der Tauchunfall. Tut uns leid, dass wir Ihr Gespräch unterbrechen müssen, aber es ist dringend!“, sagte nun die Ärztin und lächelte die Besucherin an. Die Schwester und die Ärztin nahmen den Mann im weißen Kittel in ihre Mitte und er ließ sich widerstandslos von ihnen wegführen. „Ist schon in Ordnung“, sagte die Besucherin und stand auf. Sie wusste nicht, was bedrohlicher wirkte, leere oder besetzte Stühle.