Günter Krass: Christkind

Damals schon kam ich ins Grübeln, wie es das Christkind überhaupt schaffen konnte, Millionen von Kindern gleichzeitig zu bescheren. Die Eltern erklärten unsicher, dass es wohl Helfer haben müsse, aber wer sollte das sein? Und angeblich kam in unser Haus immer das Originalchristkind. Warum das? Was war Besonderes an diesem Haushalt, dass das Christkind exklusiv zu uns kam und der Rest der Haushalte sich mit Helfern begnügen musste?
Das Christkind hatte überhaupt nichts mit dem kleinen Jesus in der Krippe zu tun. Ein Säugling wäre ja auch gar nicht in der Lage, die Geschenke zu bringen, die zwar nicht übermäßig viele waren, aber schon eine Herausforderung für einen Knirps, der weder laufen, geschweige denn stehen konnte.
Das Christkind war  einen Meter zwanzig groß, plusminus 20 cm, hatte blonde, fast goldene Haare, die gekringelt waren, wie das Engelshaar, das man in der Drogerie kaufen konnte, um den Weihnachtsbaum zu schmücken, es lächelte und würde mich aus hellen, blauen Augen anschauen, wenn ich es denn zu Gesicht bekäme.
Ich bekam es niemals zu Gesicht; das wäre auch fatal gewesen, denn dann hätte es keine Geschenke gegeben und das war schlimmer, als das Christkind nicht sehen zu können.
Das Christkind war gelenkig, beweglich, sportlich, denn es musst irgendwie ins Haus kommen, und zwar nicht über den regulären Weg, sondern unter Umständen auch durch Fenster, sogar wenn diese im zweiten oder gar sechsten Stock lagen.
Das Christkind wusste immer, was ich mir gewünscht hatte. Es war multitaskingfähig, was es damals noch nicht gab, es wusste alles, konnte alles und sah gut aus. Und zwar gleichzeitig.  Manchmal hatte es ein wenig von dem Mädchen, in das ich gerade verliebt war.
Das Christkind war ein Wunder.  Ein Wunder, das alle Ungereimtheiten auflöste, sie versöhnte und in eine wohlgefällige Bescherung verwandelt.
Das Christkind kam immer gegen fünf, weil um sechs gegessen wurde. Da es oft Schnitzel gab, war das Einhalten eines genauen Bescherungsplanes notwendig. Um vier in die Kirche, um fünf das Christkind, um sechs die Schnitzel.
Wenn sich etwas verzögerte, wurden die Schnitzel trocken und zäh, dann war der Vater sauer, der für die Schnitzel verantwortlich war und natürlich als guter Koch gelobt werden wollte.
Das Grübeln wurde irgendwann ein Zweifeln.
In der Volksschule hatte wird das Fach Naturlehre und das stand in direkter Opposition zum Fach Religion.
Die Sache mit dem Christkind konnte nicht stimmen, da gab es zu viele physikalische Ungereimtheiten. Warum fror es in seinem dünnen Kleidchen nicht? Warum glich es eher einem Mädchen, obwohl Jesus ein Junge war? Wie konnte es an verschiedenen Stellen zu gleichen Zeit sein, bi- , nein multilokal sozusagen? Wieso konnte es mit seinem zarten Körper fliegen, wo man doch dafür richtige Muskeln brauchte. Und es kamen religiöse Fragen dazu: Welche Funktion hatte es denn im Himmel, wenn es gar nicht Jesus war? Gab es eventuell mehrere tausend Ausfertigungen des Christkinds?
Die Fragen häuften, stapelten, türmten sich. Ich begann zu zweifeln. Da stimmte was nicht!
Wenn die Geschenke ausgepackt waren, verschwanden die Zweifel. Aber sie kehrten jedes Jahr zurück, und jedes Jahr wurden sie stärker.

Den Zweifel hat der Teufel in die Welt gesetzt, um die Menschen zu prüfen, sagte das Fach Religion. Und wer nicht glaubt und sündigt, der kommt in die Hölle.
Ich wollte nicht in die Hölle, damals nicht, und heute nicht.
Deshalb glaube ich lieber an das Christkind.