Ernst G.Meint: Kuss (2013)


Den Kuss hatte er sich romantischer vorgestellt. Der war doch immer Station auf der Gesamtentwicklung des Werbens und Eroberns. Er hatte ihn eher süß imaginiert, so wie von Dichtern besungen, beschrieben, bereimt.
Jetzt fühlte er sich nicht mehr Herr seiner Lage. Die beworbene Dame hing an seiner Lippe, sie hatte sich förmlich festgesaugt und wollte nicht loslassen.
Er fühlte sich bedrängt, seiner Eroberungsfähigkeiten beraubt, gelähmt und zu Passivität verdammt.
Ein abruptes Trennen der Münder würde ein Fiasko auslösen. Das war ihm fern, rückte in seinen Überlegungen aber mählich näher.
Wenn der Kuss schon nicht süß war, wie sollte der Rest werden, vielleicht der Rest seines Lebens?
Die beworbene Dame musste Knoblauch gegessen haben, denn ihr Kuss war eher würzig als süß. Zuckrig hätte es auch getan, aber der Hauch von Gemüsebrühe blockierte seine Sensoren, die Synapsen waren am Japsen, sie schrien Alarm!, keuchten und wollten besänftigt werden.
Ihr Kuss war nicht mal sanft, er war kräftig, besitzergreifend, gefangennehmend.

Mit einem Ruck riss er den Kopf zurück, ein Schmatzen zeugte von der Trennung der Lippen.
Entschuldigung, meine Dame, ich glaube, ich habe sie verwechselt, murmelte er und eilte Richtung S-Bahn-Station. Die 11er um 19.01 konnte er noch schaffen, wenn er sich beeilte.

Wie Vorurteile entstehen

Mag sein, dass man verwirrt ist, weil alles um einen herum kopfsteht, oder man selber steht kopf, weil einem der Chef die unqualifizierte Meinung gesagt hat, sei es, weil der Hund unleidlich ist, oder die Katze sich nicht streicheln lässt, zusammengefasst, dass wir meinen, niemand habe uns lieb, dann kann das zu Verzerrungen der Wahrnehmung führen.
Ein Beispiel: Aus einer formschönen, aber ein wenig, da Silber, schwarz angelaufenen Halskette wird plötzlich eine Tapirfrau:
Formschöne Halskette
Tapirfrau
Nun ist es noch kein Vorurteil, dass eine Halskette als Tapirfrau identifiziert wird.
Aber da die Menschen herzlich wenig über Tapirfrauen wissen, füllt man die Lücken dieses Minimalwissens mit Vermutetem oder scheinbar Plausiblem.
Das Tapir ist eine Art langrüsseliges Wildschein und irgendwie ein Unpaarhufer, will sagen, ist mit zwei linken Beinen aufgestanden und verbreitet dann schlechte Laune.
Typisch Tapirfrau!, heißt es dann, Und die lange Nase immer überall reinstecken! Rumschnüffeln, ob's was zu riechen gibt. Ja, hallo! Jetzt mal Schluss damit, Tapirfrau!
Kannst kaum gucken aus deinem schwarzen Augen, und einen Eierkopp hast du auch! Also, halt dich zurück.
Im Grunde hast du doch den Intelligenzquotienten einer Halskette. Null nämlich, denn Halsketten haben kein Hirn!

Interessanterweise werde solche vorurteilshafte Reden von Männern geschwungen, die eine Frau als Chef haben, womit mal wieder bewiesen ist, dass es Frauen durchaus nachzusehen ist, wenn sie auf Gesicht und Äußeres achten und zum Gesichterschneider gehen, damit der ein paar Unebenheiten abfiletiert.
Denn wer will sich schon Diskriminierungen aussetzen, wenn das auch ohne geht.
Wer weiß, was der Brüderle dazu gesagt hätte; der ist ja auch so ein Augenmensch.

Tonnes Tagebuch: Eskimos



Liebes Tagebuch!
Es ist unglaublich, wenn man daran denkt, was auf der Welt alles zur gleichen Zeit passiert.
Ich habe vorhin daran gedacht und mir wurde ganz schwindlig.
Während ich das denke, dachte ich, stirbt vielleicht gerade ein Hund, da findet jemand Pferdefleisch in der Fertig-Lasagne und Putin sitzt im Kreml und setzt Patina an.
In derselben Zeit badet jemand im Mittelmeer und ein Kind in Pakistan näht einen Fußball, für den die Familie 35 Cent erhält. Jogi Löw macht ein Verdauungsschläfchen, während Leonardo diCapro Giselle Bündchen hinterherjammert, oder sich mit einer Neuen vergnügt. Der ist ganz schön fett geworden, aber es gibt ja immer Frauen, die auch das Dickliche mögen, weil es so gemütlich ist. Es sind wohl auch eher Geld und Ruhm und dicke Autos, die den Mann attraktiv machen.Oder dicke Zigarren. Rudi Assauer mit der Tatorkommissarin, heute hat er alles vergessen und sie ist froh darüber.
Während ich Tagebuch schreibe, läuft eine Familie durch den Schneematsch und ärgert sich über vorbeifahrende Autos, die ihnen Dreck an den Kinderwagen klatschen. Tempo 30 war das nicht. Und dann die Eskimos; was machen die jetzt? Bierdosen leeren und zusammenquetschen, über die Schulter mit geschlossenen Augen von der Schneebar in den Mülleimer werfen. Den gibt es aber gar nicht, nur so einen aus Schnee, der im Frühjahr wieder schmilzt. Aber dann sie die Eskimos wohl längst unterwegs zum Südpol, weil es da wärmer ist.
Wahnsinn. Einfach nur Wahnsinn.

Weisheit des Alltags: Löffel abgeben

Warum willst du den Löffel abgeben,
wenn du noch nicht mal alle Tassen im Schrank hast?

Lyrik des Tages: Hera Blind - Männer und Frauen (2013)


angelehnt an wände
keine eile
nichts zu tun
und wartend auf den bus

ruhend ihre Hände

weile eine weile!
spricht der typ mit nappajacke
ruhen ist ein muss!
sagt der mann mit hundekacke
unterm rechten fuß

nur die frauen schweigen
reden schon ist viel zu viel
denken nur an bügeln,plätten,sticken,
putzen, rubbeln, flicken,
bohnern,scheuern, kochen,
nieten -vorher lochen-
denken, nur dran denken,
denken diese frauen, nicht die zeit verschenken
an das tun, gedanken lenken
ohne eile
in die langeweile.









Traurig, traurig: Die Leselampe

An eine vergilbte, knittrige Leselampe mit Papierschirm zu starren, macht keine guten Gefühle: Es erinnert an die Vergänglichkeit des Seins, dass die Haut nicht mehr glatt, weiß und straff ist, sonder faltig, nikotingelb und lasch am Körper herunterhängt.
Die Leselampe ist so designt und schon seit jungen Jahren so gewesen. Sie altert nur mit der Verqualmung der Raumluft, bleibt aber insgeheim immer jung, denn sie nutzt sich nicht ab wie das gelesene Buch.
Wir aber sind wie das Buch, das die Leselampe bestrahlt. Ohne sie wären wir nicht nur schlaff und knittrig, sondern sogar schlecht beleuchtet, wenn nicht sogar unterbelichtet.
Traurige Perspektive; Abhilfe kann eine Stirnlampe bieten, die spart obendrein, weil mit LED-Birnen bestückt, wertvolle Energie.

Lustige Werbung: Die ersten Frühlingsboten sind da...

Was will uns der Anbieter sagen?
Die ersten Frühlingsboten sind da?
Die ersten Menschen kramen die Boliden aus dem Keller und fräsen über das graue Braun, das im letzten Jahr ein saftiger Rasen gewesen ist?
Schneeglöckchen, ja, die kann man abmähen. Das sind Frühlingsboten. Die Frage ist allerdings, warum?
Stehen lassen ist auch nicht schlecht, denn das ist ein Lichtblick in dunkler Zeit.
Vielleicht meint der pfiffige Anbieter auch, dass die Rasenmäher selbst die Frühlingsboten sind.
Lauscht, ihr Leute, lauscht, ob ihr das sonore Brummen eines Elektromähers oder das kraftvolle Scheppern eines Benziners hört.
Am verklärten Blick der Hinterherlaufenden könnt ihr die Botschaft ablesen: Es ist Frühling! Es gibt was zu mähen.
Auch wenn das nicht stimmt, stimmt der Vorgang, wenngleich ohne Mähertrag, ein auf das große Frühlingswohlbefinden, das den Gartenbesitzer jedes Jahr überkommt.
Die anderen versinken in intensiver Frühjahrsmüdigkeit und machen ein letztes Nickerchen vor dem Sommer.
Aber: Vielleicht gibt ja doch was zu mähen, man muss nur die Augen offen halten. Auch Gegner der Werbung stellen immer wieder fest: Werbung kann auch recht haben. Muss aber nicht.

Georg Krakl: Huhn (2013)


Vassily Kannikski: Huhn (2013)
Den Sinn des Lebens sieht das Huhn
im Tun.
Des Tages Körner picken,
und des Nachts auf einer Stange ruh'n.

Den Menschen will das so nicht glücken.

Fotokunst der Sechziger: Tulpen vor Gartenstühlen

Helmuth Neuton: Tulpen vor Gartenstühlen (1967)
Die Betonplatte war fertig, die Gartenstühle standen, alles streng nach Norden ausgerichtet; die Tulpen blühten, das Schwein hatte die Mistkuhle das erste Mal seit dem Winter bewühlt. Der Himmel blau und die Menschen friedlich. Dorf hatte Ruh. Ülldülle, wie man es nannte, weil man die Schreibung ignorierte. Schöne Zeiten, als die Menschen sich einen Dreck um die Orthographie kümmerten, weil sie sie fälschlich für Vogelkunde hielten.

Waschbeckenmemory für junge Menschen

Josef Beuls: Waschbecken ist voll (2013), Currywurst
auf Keramik
Immer häufiger leiden besonders junge Menschen nach Alkoholgenuss an Gedächtnisschwäche: Sie vergessen morgens den Dreck aufzuräumen, den  sie abends hinterlassen.
Dafür gibt es, wie sie berechtigterweise sagen, qualifizierte Menschen: Den Müllwerker und die Eltern, vielleicht sogar den Nachbarn, weil er seinen Vorgarten gern ordentlich hat.
Bedrückend die Erkenntnis, die Erinnerung verloren zu haben: Wer ist Morfel?
Was war mit dem letzten Mix?
Woher kommt der Fleck auf der Hose, der auf dem Pullover und der am Hals?
Warum ist mir schwindlig?
Und dann der Blick ins Waschbecken: Alles ist wieder da!
Genau! Gestern Abend! 1 Currywurst, eine halbe Dose Pittjes, Chips mit Paprikageschmack und ordentlich Pommes mit Mayo, ein Kaugummi, komisch, kann eigentlich nicht von mir sein.
Klar, das war doch die Fete bei Moppel, Junge, Junge, ja klar. Klar, klarer, Korn. In der Reihenfolge und nicht anders. Jepp, der Kopf ist noch da und alles ist noch drin, im Kopf , also das Hirn.
Liebe Eltern! Nicht vorgreifen und Stöpsel in Waschbecken ziehen, bzw. das Becken anders freimachen!
Was weg ist, ist weg. Stimmt. Aber manchmal sollte man sich konservativ verhalten und bewahren. Damit aus dem Koma kein Wachkoma wird. Damit die Erinnerung bewahrt wird, aus der wieder doch immer lernen können.
In Null Koma nix ist der Nachwuchs aus dem Haus. Wenn er sich erinnert, dass er noch immer bei Mutti wohnt.

Kryptische Lyrik: Was will uns der Dichter sagen?

Gedicht von Wolf Wunderschreck:

So möcht ich werden:
unlängst wie die Südsee,
genügend wie die Leguane im Legoland,
gleisgültig wie Legolas,
und wie einer, der auf Sieg sitzt.


Tja, dieser flotte Fünfzeiler gibt dem Leser schon einige Aufgaben. Hier reimt sich nichts, also kann es nicht für den Heimatverbundenen, den Dörfler, gedacht sein.Dabei gibt es sehr schöne Reime auf -see oder -land, sogar auf schwitzt.

Das hat Wunderschreck aber wohl nicht gewollt, das sich alles so gefällig reimt.
Er bedient sich seiner Neologismus-Schatulle und wirft eine Neuerscheinungen aufs Papier: Gleisgültig. Versteckte Werbung für die Deutsche Bahn oder sogar für die Bundesnetzagentur? Man weiß es nicht, genauso wenig, wie man das Wort gleisgültig zu deuten vermag. Legolas, das Elbenspitzohr aus dem Herrn der Ringe, sei gleisgültig, will der Autor vermitteln, ein Vergleich den niemand zu deuten vermag, vielleicht steht er deshalb in der Bedeutung von "unvergleichlich"?
Was die Leguane in Legoland sollen, bleibt ebenfalls unerklärt. In Legoland sagen sich vielleicht Spatz und Fink "Guten Tag!" und Hase und Igel "Gute Nacht!", aber Leguane gibt es dort weißderdeubel nicht. Und dann "genügend"! Ja, das ist ja Schule! Genügend entspricht ausreichend! Der Zensur, die keiner haben wollte; dann lieber eine richtige Sechs!
Zeile 3 müsste man vielleicht mit "ausreichend gibt's hier nicht" übersetzen, um der Zeile wenigstens andeutungsweise einen Sinn zu geben.
Unlängst wie die Südsee, auch das klingt doch völlig schräg: Unlängst ist erst mal kein Adjektiv, Herr Wunderschreck, sondern ein Adverb, das sich nur schwer für die Beschreibung von Subjekten und Objekten und Substantiven oder wasweißdennich benutzen lässt, und zweitens ist die Südsee nicht das Gegenteil von Nordsee, was hier ja auch latent mitklingt. Mann, Mann Wunderschreck! Das ging doch alles mal besser!
Und dann noch: Wer ist Sieg? Also das lyrische Ich sitzt ja wohl auf Sieg! Ist das ein Pferd mit komischem Namen? Hippophiles schwingt hier mit? Da kann sich doch wirklich niemand sicher sein, und was nützen denn Gedichte, die unsicher sind, weil sie keiner versteht? Das taugt ja nicht mal zum Auswendiglernen.
Der Kracher ist Zeile 1: So möcht ich werden!
Erstens fehlt das e bei möchte, und: Liebes lyrisches Ich! Nein, danke! Ich möchte, nicht mal stellvertretend so werden!
Ab durch den Aktenvernichter!

Orakel: Kaffeesatz

Was wollte mir das Orakel sagen?
Alles ist rund.
Also, ungefähr rund, wenn man die Kanten etwas abrundet, bzw. aufrundet.
Braun. Das Leben ist braun. Was konnte das  bedeuten?
Irgendwie erinnerte mich der Kaffeefilter an eine HJ-Mütze; warum, konnte ich nicht sagen. Hatte die HJ nicht so Schiffchen?
Beschiff dich nicht!, schrien sie damals, wenn jemand keine von diesen Mützen aufhatte und sie ihm aufs Maul hauen wollten. Beschifft haben die sich dann doch. Nicht vor Lachen.
Kaffee ist kalt. Auch so eine Botschaft. Und: Sei froh, dass der Prutt nicht in deiner Tasse gelandet ist.
Und der Filter? Ja, der Filter.
Infiltration.
Braunes Gedankengut infiltriert! Das kam mir in den Sinn.
Ich schlürfte an meinem Kaffee, der endlich trinkbar war.
Kaffee hat seinen Preis. Zum Beispiel einen alten Filter, der manchen Leuten als Orakel dient, wenn man  ihn nicht entsorgt.
Ok. Wohin kam der alte Filter jetzt? Kompost? Restmüll? Gelber Sack? Brauner Sack? Hahaha.
Nicht lustig. Biotonne, ganz klar.
Die Erde war ja auch braun.

Graffiti interpretieren: Nordseebesucher

Die Menschen ärgern sich immer wieder über wahllos dahingesprühte Graffitis, die manchmal ohne Sinn und Verstand bleiben und eher danach aussehen, der Sprayer hätte seine Dose endgültig leergesprayt und die Düse gereinigt..
Dann tauchen Wandbotschaften auf, die auf den ersten Blick einen Sinn ergeben:
Parkplatz nur für Nordsee-Besucher.
Auf den ersten Blick wirkt das Graffito klar, geordnet und verständlich.
Vielleicht ein bisschen deutsch und schablonenhaft mit wenig Verve. Unkreativ, aber deutlich.
Erst wenn der Leser nachdenkt und feststellt, dass die Mauer, an die der Text gespritzt wurde, 200 km von der Nordseeküste entfernt ist, wird klar, dass sich hier jemand unter dem Deckmäntelchen des Deutsch-Ordentlichen dem Absurden hingegeben hat.
Hier zu parken und dann die Nordsee zu besuchen, um vielleicht ein Bad zu nehmen oder im Strandkorb den Möwen bei der Nahrungssuche in nicht ausgeleerten Papierkörben zuzusehen, erscheint idiotisch.
Der Nordseebesucher will, genau wie der Badegast an der Südsee, sein Auto in der Nähe seines Strandkorbes wissen und nicht, weil er vielleicht ein bis zwei Euros spart, einen Parkplatz fernab von weißen Stränden und vollen Abfalleimern, über denen Möwen kreisen.
Man kann dem kritisiertenb Graffito zugutehalten, dass unter dem Schriftzug eine Art Nordseewelle abgebildet ist, leider in Zementgrau. Aber dann das Gravierende: Ein vergittertes Fenster! Das zeigt dem Betrachter, dass sein Urlaub doch nur eine Flucht aus dem Gefängnis  des Alltags ist, dem er eigentlich nicht entrinnen kann.
Die Nordsee ist darüber hinaus wirklich zementgrau, weil das Wattenmeer darunterliegt.
Immerhin macht folgende Tasache froh und lässt an die Menschen glauben: Der Parkplatz ist in der Regel unbesetzt.
Von Ferne hört man aber Möwengeschrei und ein subtiler Geruch nach Fisch dringt in die Nase des vorbei schlendernden Fußgängers.

Brüderle und Schwesterle: Dirndl füllen


Brüderle: Ja, Schwesterle, du füllst doch nicht mal ein Dirndl!
Schwesterle: Du, Brüderle, könntest das schon schaffen,...
Brüderle: So mager wie du bist.
Schwesterle: ...mit deinem Speck.
Brüderle: Du halbe Portion, kein Holz vor der Hütten, aber immer auf die Titelseite wollen.
Schwesterle: Sei jetzt still, Brüderle, sonst verwandele ich dich in ein Reh!
Brüderle: Wenn schon, dann Bock.
Schwesterle: Das bist du doch schon...

Große Zähne wirken aggressiv



Früher hieß es: Die hat doch ein Pferdegebiss, das ist doch zum Wiehern!
Besonders Frauen mussten sich diesen Vorwurf gefallen lassen. Männer ließen einen Bart drüberwachsen und schwiegen.
Dann stellten Psychologen fest, dass ein Lachen, bei dem man natürlich Zähne zeigt, ein Akt der Aggression ist, eine Art Drohgebärde, um dem Gegner zu signalisieren: Vorsicht! Bissiger Zeitgenosse! Mit dem ist nicht zu spaßen! Der hat hier sein Revier, da musst du kuschen.
Wer zum Zahnarzt geht, sollte sich überlegen, was er will:
Wer aller Zähne verlustig ist, weil der Dehntest mal wieder zu tief ins Maul gegriffen hat, wirkt wie ein Weichei, dem man nur noch Brei zumuten kann.
Wer riesige Hauer, möglichst noch als Implantate und mit Brillanten verziert, im Mund hat, sollte sich vorsehen.
Mitmenschen, die auch ohne entsprechendes Zahnwerk aggressiv, sind, könnten die Botschaft missverstehen und gleich auf das neue Beißwerkzeug schlagen. Da gibt's sofort was auf die Frontzähne!, sagt Poppi immer, wenn er sich genervt fühlt, oder einfach nicht weiter weiß.
Aggressive Menschen wissen häufig nicht weiter; deswegen sind sie ja aggressiv.
Ihnen bleibt nur die Flucht nach vorn, um sich keine Blöße zu geben.
Neue Zähne sind teuer und vielleicht sogar gefährlich und mittelfristig gesundheitsgefährdend.
Manchmal reicht es, neue Messer und Gabel zu kaufen; vielleicht als Ergänzung auch einen Pürierstab. Das wirkt sowieso viel friedlicher. 

Gestern vor einiger Zeit: Endloses Wachstum

Seit zwei Monaten saß Betti nun schon in der Küche und ich hatte damals gedacht, sie sei Wachs in meinen Händen, oder wenigstens, ich sei Wachs in ihren Händen.
Gefehlt. Sie verlangte Wachs.
Wachs!, sagte sie immer wieder.
Weil ich aber schon groß war, holte ich ihr Kerzen, Haushaltskerzen, angeblich tropffrei. Gefehlt, weit gefehlt!
Die Kerzen tropften wie damals auf die Weinflaschen der Siebziger Jahre, als wir vollkommen beduselt Pink Floyd hörten.
Leg doch mal eine Tür auf!, sagte Neppo, wenn er die Doors hören wollte, und fand das witzig. Nach einem Kübel Lambrusco kein Wunder.
Die Kerzen tropften auf Betti, die immer wiederholte: Wachs!
Betti, ich hatte mir von deinem Namen mehr versprochen,
mehr im Sinne von Nomen est Omen. Aber du sprachst kein Latein, hast nur rumgesessen und Wachs! gefaselt.
Ich habe keine Kerzen mehr und ich will auch keine mehr haben.
Kerzen, wie lächerlich. Zu Kerzen zu sagen: Wachs! Noch lächerlicher.
Betti, wer hat überhaupt behauptet, du hießest Betti?
Du sprichst doch nicht, ausgenommen dieses penetrante Wachs!
Betti saß und wisperte Wachs.
Die Kerzen tropften.
Ich legte eine Tür auf und hörte Pink Floyd.
Neppo trank Bordeaux.
Irgendwann hat alles ein Ende.



Wurmfortsatz - Was sollte das sein?

Vassily Kannikski: Blindarm (2013)
Wir dachten nach, damals, über unseren Wurnmfortsatz. Was sollte das sein?
Was war unser Wurm? Was war der Fortsatz dieses Wurmes?
Wir kannten Regenwürmer. Vielleicht noch Lindwürmer, die wir als Kind mit dem Holzschwert in der Beeke erschlagen hatten. Das Wasser des kleinen Baches hatte sich rot gefärbt und uns Drachenhaut verliehen. Wir waren unzerstörbar, bis die ersten Krankheiten auftraten, bis der erste Krebs am Eingemachten nagte.
Wurmfortsatz.
Das war nur die Verlängerung irgendeines Wurmes.
Was sonst an uns herumbaumelte, konnte ja wohl keiner als Wurm bezeichnen. Auch wenn es so aussah.
Was hätte nur der Drachentöter Siegfried dazu gesagt?
Der konnte ja nichts sagen, weil er schon tot war.
Oder nie gelebt hatte. Das war der Preis dafür, Legende zu sein.

Mehr Fleisch statt teurer Pillen

Der Verband deutscher Pharmaindustrie hat angekündigt, die Preise für Medikamente kräftig zu erhöhen.
Begründung: Immer mehr Menschen neigten dazu, statt einer heilenden oder betäubenden Pille, ein Stück Fleisch mehr zu essen, denn darin seien, so zahlreiche Verbraucher, nicht nur genügend, sondern sogar mehr Antibiotika und andere Substanzen, als man wirklich akut brauche; man könne dadurch aber auch latente Krankheiten im Keim ersticken.
Zudem habe man ein manchmal schmackhaftes Mahl auf dem Tisch, das auch noch satt mache, was bei Medikamenten überhaupt nicht der Fall sei. Oft lösten die Appetit nach mehr aus, was wiederum die Magenschleimhäute angreife.
Der Verband deutscher Fleischesser empfiehlt Menschen mit grippalen Infekten zum Beispiel, bevorzugt Schweinenackensteak zu essen, denn dort werde die Spritze gesetzt, und dort sei auch die Konzentration der gespritzten Substanz am größten.
Dei Pharmaindustrie klagt weiter, dass sie millionenschwere Forschung betrieben habe, von der heute die Fleischindustrie profitiere und fordert eine Abgabe pro verkauftem Kilo.
Der Verbraucher reibt sich die Hände, fragt aber trotzdem: Was soll ich denn essen, wenn ich gar nicht krank ist?

Als die Affen noch kein Internet hatten

Als wir noch auf den Bäumen saßen, fanden wir das nicht affig.
Erst als wir auf dem Boden der Tatsachen angekommen waren, fand wir Baumhocken affig.
Bis dahin hatten man uns gesagt, es heiße: Auf dem Boden der Tarzan.
Damit konnten wir nichts anfangen.
Dann lernten wir Tarzan kennen und er nannte sich Mensch und uns Affen.

Wir dachten nach und stellten fest, dass es "Auf dem Boden des Tarzan" heißen musste, denn Tarzan war männlich.
Tarzan hatte nämlich eine Liane, die hieß Jane.
Beide benahmen sich affig, und weil wir so nicht sein wollten, beschlossen wir, nicht weiter auf den Bäumen hocken zu bleiben. Wir gingen zu Boden.
Kurz darauf erfanden wir das Internet.
Tarzan hockte seitdem mit seiner Liane vor dem Bildschirm und wir wieder auf den Bäumen.
Nur Jane glaubt, sie sei reingelegt worden, und nannte sich fortan Liane.
So war alles wieder im rechten Lot und Tarzan hatte endlich etwas zu tun, bei dem er keinen störte.

Unfall am Kindergeburtstag

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Wissenschaftlich festgestellt: Jugendliche bringen Opfer

Vassily Kannikski: Kotzfleck von oben (2013)
Mehrwöchige Beobachtungen in der Wirklichkeit haben bestätigt: Jugendliche versammeln sich gern, um dann in geschlossenen Räumen Alkohol zu sich zu nehmen, bis sie ein Stadium der Bewusstseinserweiterung erreicht haben, dass ihnen offenbart, wie gefangen sie doch in der Welt der Erwachsenen und speziell ihrer Eltern sind.
Nach etwa zweieinhalb Stunden nämlich kommen sie regelmäßig wieder an die frische Luft, um den angestrebten Zustand des Nichtgefangenseins rituell durch lautes "Freiheit"-Schreien zu feiern. Leider ist die Artikulationsfähigkeit durch den vorher konsumierten Alkohol derart eingeschränkt, dass sich der Unbeteiligte eher in eine psychiatrische Klinik der Vergangenheit zurückversetzt fühlt, als man noch mit Elektroschocks experimentierte.
Das rituelle Schreien wird ergänzt durch Rauchopfer und das Ablegen der dazugehörigen  Schachteln  auf den Boden, gleich neben metallene Flaschenverschlüsse und Mundstücke, derer man sich für die Rauchopfer bedient hat.
Um das Wohlwollen von Mutter Erde zu gewinnen, denn nichts anderes haben die Aufschreienden im Sinn, erbricht der eine oder andere das in den Katakomben Konsumierte in die Vorgärten der Nachbarn, um den ewigen Kreislauf der Natur nachzubilden und symbolisch in Gang zu halten. Dieses Gemisch aus Fatburger und Hochprozentigem dient am nächsten Morgen dem ausgehungerten Vogel als Nahrung, vielleicht auch der Katze, manchmal der Ratte, die allesamt beschwingt von dannen fliegen, tigern und flitzen, um am Montag dann den großen Schädelschmerz als Akzeptanz des Opfers durch Mutter Erde zu empfinden.
Diese Botschaft haben die Freiheitsstrebenden bereits am Tag zuvor erhalten, um fröhlich und zufrieden - auch wenn die Mimik etwas mürrisch wirkt -  zu beschließen, diesen erfolgreichen Opfergang am nächsten Wochenende noch einmal anzutreten, vielleicht nicht hier an diesem Ort, vielleicht aber doch. Alkohol wäre ja noch da.

Abgrund tief


Einst schrieb ich an die Innenseite der Toilettentür unseres Schulklos:

Lebe gern am Abgrund
Lebenshoffnung: Grabfund

Dachte, weltberühmte Archäologen würden mich finden,
in eine Vitrine legen und der Öffentlichkeit als ein besonders interessantes  Fundstück präsentieren, sodass ich zu Todzeiten - sagt man das überhaupt, wenn es zu Lebzeiten nicht geklappt hat? - zu Ruhm und Berühmtheit gelangen würde.

Niemand aber macht sich die Mühe, in den Abgrund, in den ich mittlerweile gestürzt war, zu schauen, denn wer, der nach oben will, schaut nach unten, da wo die Kadaver lauern, die in Museen Karriere als Exponate machen wollen?
Alle schauen nach oben, die nach oben wollen, die zu Lebzeiten Karriere machen wollen, damit sie die Bewunderung, den Neid, den Hass ihrer Mitmenschen genießen können.
Die Toten verharren. Ihnen ist kalt, weil sie nicht gewusst haben, dass niemand sie eines Blickes würdigen würde.
Der Abgrund heißt nicht zu Unrecht Abgrund.
Auch wenn ich diesen Satz nicht vollständig verstehe und ihn schon gar nicht erklären kann, so ahne ich, dass es ein wahrer Satz ist, eine dieser unumstößlichen Wahrheiten, die einen aus der Bahn werfen kann.
Ein Abgrund hat die fatale Eigenschaft, dass er keine Rückkehr zulässt.
Nicht einmal eine Rückkehr als Exponat, denn wer, hätte er mich gefunden, könnte zurück, wenn der vorherige Satz stimmte?

Es war ein schwerer Fehler, das Schulko für Schmierereien zu benutzen.

Ben Ommen.

Anrufung des Muttermals

Vassily Kannikski: Muttermal (201



Ich muss Muttermal
wieder anrufen.

der sohn