Ernst G.Meint: Kuss (2013)


Den Kuss hatte er sich romantischer vorgestellt. Der war doch immer Station auf der Gesamtentwicklung des Werbens und Eroberns. Er hatte ihn eher süß imaginiert, so wie von Dichtern besungen, beschrieben, bereimt.
Jetzt fühlte er sich nicht mehr Herr seiner Lage. Die beworbene Dame hing an seiner Lippe, sie hatte sich förmlich festgesaugt und wollte nicht loslassen.
Er fühlte sich bedrängt, seiner Eroberungsfähigkeiten beraubt, gelähmt und zu Passivität verdammt.
Ein abruptes Trennen der Münder würde ein Fiasko auslösen. Das war ihm fern, rückte in seinen Überlegungen aber mählich näher.
Wenn der Kuss schon nicht süß war, wie sollte der Rest werden, vielleicht der Rest seines Lebens?
Die beworbene Dame musste Knoblauch gegessen haben, denn ihr Kuss war eher würzig als süß. Zuckrig hätte es auch getan, aber der Hauch von Gemüsebrühe blockierte seine Sensoren, die Synapsen waren am Japsen, sie schrien Alarm!, keuchten und wollten besänftigt werden.
Ihr Kuss war nicht mal sanft, er war kräftig, besitzergreifend, gefangennehmend.

Mit einem Ruck riss er den Kopf zurück, ein Schmatzen zeugte von der Trennung der Lippen.
Entschuldigung, meine Dame, ich glaube, ich habe sie verwechselt, murmelte er und eilte Richtung S-Bahn-Station. Die 11er um 19.01 konnte er noch schaffen, wenn er sich beeilte.