Tonnes Tagebuch: Ja, wo war'n Sie denn?

Liebes Tagebuch!
Wie ich es hasse! Oh, wie ich es hasse!
Da war ich in einem Konzert, Tschaikowsky, zwei Stunden lang Tschaikowsky, leise Töne, sanfte Töne, starke, Töne, laute Töne, richtig laute Töne! Hurra! schrie ich innerlich, das ist Tschaikosky, da muss er sich nicht in der kalten Newa umdrehen, da kann er sagen: Gut gemacht, Jungs, so habe ich es mir vorgestellt, so muss das rüberkommen.
Der Virtuose mit seiner Zaubergeige geigt furios und dann wieder zart, wie hingehaucht; wenn er gerade nichts zu spielen hat, steht er ein wenig unsicher herum, fängt dann an, mitzusummen, lächelt und schwankt ein bisschen hin und her, er ist nicht mehr auf der Bühne, sondern ganz in der Musik.
Hurra! Wie viel Seele hat die Musik, wie viel haben die Musiker!
Und das ist keine Frage, sondern ein Ausruf.
Sogar der Kritiker mit der Profilneurose schreibt am nächsten Tag gnädig über die Aufführung, fast, als habe es ihm ausgesprochen gut gefallen.
Fünf Tage später ein Leserbrief im selben Blatt, in dem auch der Kritiker veröffentlicht.
Ich will meinen Augen nicht trauen: Wo ist der Mann denn gewesen?
Ihm habe die Seele gefehlt. Also, nicht ihm; aber den anderen auf der Bühne.
Hallo, Meister?
Aus welchem kranken Hirn ist denn dieser Satz geboren? Welche verkrüppelte Beamtenseele, dessen Besitzer sich mit dem Wegstapeln und Zurückstapeln von Akten beschäftigen muss, zwingt denn den Wirtskörper zu solch einer hochpotenziert dummen Frage? Was hört der Kerl denn sonst? Beseelten Musikantenstadl?
Ich unterstelle, dass der Schreiber, dem offenbar die Empathie fehlt, wohl dem übersäuerten Milieu des eingebildeten Bildungsbürgertum entstammen muss, denn wo findet man solche arrogante Frechheiten, die die Schreibenden im Grunde bereits disqualifizieren, wenn nicht dort? Da, wo sich Selbstgefälligtkeit und Gefühlslosigkeit ständig Opfer suchen müssen, um den Druck loszuwerden, der sich angesichts der täglich erlebten Ungeliebtheit aufbaut.
Der Klugscheißer hackt auf dem Virtousen rum, denn der Klugscheißer muss nicht spielen, muss nichts leisten, kann aber jammern, dass die Musikanten nicht seine leergeräumte Seele mit neuem Inhalt gefüllt hätten. Das ist aber nicht die Aufgabe der Künstler, denn das geht gar nicht, weil in einem solchen Konzertbesucher der Platz für eine Seele nicht vorgesehen ist. Wie aber will er beurteilen, ob mit Seele gespielt wird, wenn er nicht weiß, was das überhaupt ist?
Die haben zu laut gespielt.
In schlichte Worte zusammengefasst der zweite Teil der Kritik.
Ja, verdammt, da ist eben kein Lautstärkeregler am Orchester! Schon mal drüber nachgedacht?
Und: Lautes muss laut gespielt werden, sonst ist es leise.
Binsenweisheit.
Lautstärkerregler hin und her; manchem wünscht man sich, wenn auch politisch nicht korrekt, einen Ein- und Ausstellknopf am Kopf.
Danke, liebes Tagebuch, dass ich mich mal wieder richtig aufregen durfte, das tut so gut, das befreit. Ich könnte dir jetzt noch den Namen des Briefschreibers nennen, irgendwas mit Sack oder Säckel, aber das tue ich nicht, weil man das nicht tut. Wegen politischer Korrektheit.
Vorhin habe ich einem Bettler einen Euro geschenkt. Das war auch schön.