Günter Krass: Essays - Hähnchenfleisch (Auszug)

Günter Krass äußerte sich in einem Essay der mittleren Phase, als er vom Frauenverstehenwoller über den Frauennichtversteher zum Frauenhasser zu mutieren schien, über einen Zusammenhang von Essgewohnheiten und Emanzipation, vor allem auch des Mannes. Bislang wird versucht, den Text, der voller Wut gechrieben zu sein scheint, zu entschlüsseln und die Kernaussage herauszulösen:
...Was hat das mit halber Wahrheit zu tun?
Frauen bestellen gern halbe Hähnchen, männliche halbe Hühner, braune, knusprige, ölig-glänzende Hähnchen. Diese kulinarische Missetat ist nicht mehr und nicht weniger als Verrat an den Männern zu deuten. Wundersam, dass die Emanzenbewegung dieses Tier, dieses halbe Tier, noch nicht in ihr Wappen gesetzt hat. Neben die Tranchierschere. Die gequälte und gedemütigte, die geschändete Kreatur als Symbolfigur des zwischenmenschlichen Fortschritts aus Frauensicht, die dem Mann niemals gerecht werden kann. Dass ich nicht lache! Des zwischenmenschlichen Ausverkaufs!
Aber solange der männliche Kollege am Nebentisch mitisst und wohlig grunzt, während ihm das Fett in den Mundwinkeln steht, erwarte ich kein Mitgefühl. Und der Fleischesser kann nicht einmal zur Brat- oder Currywurst greifen; das wäre die Krönung der makabren Veranstaltung. Die Wurst als Symbol der männlichen Erniedrigung vielleicht? Nein, danke!Vegetarier sollen bekanntlich länger leben. Allerdings sei ihr Leben nicht so schön. Bleibt denn eine echte Alternative? Soll der Mann plötzlich, nur weil er seine Spielgefährtin Britta „Du dumme Pute!“ nannte, als Protest gegen das, was ihm tagtätlich angetan wird, nun Putenfleisch essen? Ist es nicht erniedrigend, Gleiches mit Gleichem zu vergelten? Wenn eine Frau ein halbes Hähnchen isst, Mann, dann gib ihr auch deines dazu. Das hat Größe! Da schimmert der Morgenhimmel der Zukunft durch. Dumm, wenn die Dame die Geste nicht zu würdigen weiß und die zweite Hälfte auch verputzt. Zuvorkommenheit und gediegene Höflichkeit werden meist als plumpe Anmache gedeutet, und dann ist das Geschrei groß. Fazit beleibt: Zwei halbe Hähnchen sind noch kein ganzes. Und das umschreibt das Dilemma, in dem die Männerwelt seit einigen Jahren steckt und aus der es sich herauszuwinden gilt. Dass die Frauen da keine Hilfe sind, sondern es mit sich wohlmeinend den Karren weiter in den Dreck schieben, liegt auf der Hand. Den Männern bleibt nur, Abstand zu nehmen von der Gefühlsduselei der Vergangenheit, von gemeinsamer Haushaltskasse, vom Dufflecoat im Dreck,damit der Fuß der Dame trocken bleibt, von den ignorierten Wohlgefälligkeiten, den kleinen Aufmerksamkeiten, von dem Etwas-Mehr-Geben. Selbstverwirklichung blablabla. Irgendwo auf der Welt verhungert ein Kind, und du redest von Selbstverwirklichung. Makramee oder was?