Günter Krass - Die Neue (2005)

„Mutter, das ist Wilma!“ Harald sagte das sehr leise. Er wusste, wenn Mutter häkelte, wollte sie nicht sprechen.
„Wilma.“ Harald zögerte. „Wilma ist meine Frau!“
Er wusste nicht, wie er das anders ausdrücken sollte; mit dem Begriff Lebensabschnittsgefährtin wollte er nichts anfangen und seine Mutter würde das schon lange nicht können. Harald legte einen Arm um Wilma, als ob er noch einmal bekräftigen wolle, dass die Frau neben ihm wirklich Wilma war. Und dass es jetzt seine Frau sei.
Wann ist man die Frau eines Mannes? Wenn man miteinander geschlafen hatte?
Harald war sich nicht sicher.
Wenn man sein Leben teilen wollte, in guten wie in schlechten Tagen? Das klang wie abgedroschen. Bisher hatten seine Beziehungen zu Frauen nur wenig Dauer gehabt.
„Mutter!“ Die Angesprochene häkelte weiter, sprach etwas Unverständliches, murmelte etwas, das wie Guten Tag! klingen konnte, oder Hallo. Nein, Hallo würde sie nicht sagen. Das war nicht ihr Stil. Stil kann man das doch nicht nennen, widersprach er sich. Das ist doch eigentlich Unhöflichkeit, Borniertheit, Ignoranz. Harald bemerkte den aufsteigenden Ärger.
Was Wilma jetzt wohl dachte? Welchen Eindruck gewann sie von seiner Mutter? Würde sie auf seinen Charakter schließen? Immerhin war er ihr Sohn. „Das ist Wilma!“ sagte Harald, nachdem er sich noch einmal geräuspert hatte. Fast bewegungslos saß seine Mutter im Sessel. Nur die Finger bewegten sich flink und Masche um Masche fügte sich aneinander. Wie er diese possierlichen Taschentuchumrandungen hasste! Als Kind hatte er oft einen verschmierten Mund gehabt, von Schokolade oder Eis. Seine Mutter hatte dann in ein Taschentuch gespuckt und mit dem feuchten Stoff seine Haut saubergewischt. Er konnte sich an den üblen Geruch ihres Speichels erinnern. Er hatte es gehasst. Auch jetzt ekelte ihn die Erinnerung daran.
Sie hatte auch dafür gesorgt, dass seine Frauen ihm davongelaufen waren. Keine war gut genug gewesen. Hinterher, wenn sie fort waren, hatte sie ihm ihren Reindruck geschildert. Und dann die Vorwürfe: Die hättest du halten sollen. Immer war es zu spät gewesen.
„Komm, Wilma! Wir gehen!“
Aber Wilma hatte sich schon unbemerkt aus seinem Arm gelöst und war in den Flur gegangen. Er hörte, wie sie leise die Haustür öffnete.
„Mach’s gut, Mutter.“
Seine Mutter hob kurz den Kopf, so als wolle sie das Geschehen bestätigen. Sie blickte Harald kurz an, um anzudeuten, dass er es mal wieder nicht geschafft habe. Dann senkte sie den Kopf und konzentrierte sich auf die Häkelarbeit. Ihre Finger bewegten sich flink und reihten Masche an Masche."Wilma!", wisperte sie,"was für ein Name! Nichts für Harald."