Günter Krass: Was ich eigentlich nicht denken will (1)

Es heißt ja, dass die Gedanken frei sind; aber manchmal frage ich mich doch, was die Gedanken
so denken und warum, und ob Gedanken überhaupt selbständig denken, auch wenn mir das gelegentlich so vorkommt, denn das meiste will ich gar nicht denken. Die Frage bleibt: Wer denkt da für mich?
Vor drei Nächten sinnierte ich gezwungenermaßen im Halbschlaf darüber, wie der Straßenverlauf entlang der Grenze zwischen Deutschland und Holland sei kann und kam zu dem Schluss, dass dieser wohl parallel zur Grenze verlaufen müsste, wollte man eine Auto- oder Fahrradtour unternehmen, um die Grenze zu betrachten. Das der Verlauf genau im rechten Winkel anzustreben sei, wenn man die Grenze überschreiten und in das Nachbarland eindringen wollte oder die Nachbarn in das eigene Land reisen wollten, aus welchen Gründen sie dies auch immer zu tun die Absicht hatten.
Ich folgerte, dass Straßen, die parallel zur Grenze verlaufen, wohl aus einem Zeitalter der Abschottung entstanden sein mussten, in dem niemand den Boden des anderen betreten wollte, oder aus einem Zeitalter, als es als wunderbar galt und erstrebenswert, den Grenzverlauf zu seinen Nachbarn zu bereisen oder zu betrachten. Solches Tun gilt ja gemeinhin als wertfrei und damit unbedeutend, zumal es nicht das geringste Versprechen auf einen kleinen Gewinn, geschweige denn eine irgendwie gearteten Gewinnmaximierung erhoffen lässt.
Der rechtwinklig zur Grenze angelegte Straßenverlauf deutet auf Zeiten des Grenzübertritts hin, was immer schon den in Zwängen steckenden Menschen als verlockend erschienen sein musste, und wenn es nicht die eigenen Beschränkungen zu beseitigen galt, so die des Landes, des Staates und vor allem, und das war das eigentlich Grenzübertretende, des Nachbarlandes. Vielleicht hatte man ein Pfund Butter oder ein Paket Kaffee in der Tasche und versorgte sich mit der fragwürdigen Anmutung eines Schmugglers, auch wenn man feststellte, dass es völlig legal war, ein Pfund Butter oder Kaffee einzuführen, zumal die beiden Produkt im Nachbarland Holland sowieso billiger waren.
Aber das Gefühl reichte, um sich weiterhin einer Art Freiheitsgefühl hinzugeben, man könne tage-, ja monatelang hin- und herlaufen, die Grenze überschreiten, und niemand könne einen daran hindern, vielleicht, vor Erfindung des Schengenraumens, die Zollbeamten, die sich durch solches Tun persönlich beleidigt fühlen könnten, oder auf den Gedanken kämen, medizinisch-neurologisches Personal zu bestellen, das für den Abtransport in eine Gesundungsanstalt Sorge tragen würde.

Ich verstrickte mich in Gedanken über Holland und dachte daran, dass Holland das ganze Vaterland mit Gouda-Käse überschwemmte, wenn man diese Metapher überhaupt nutzen durfte, denn erst im Käsefondue nahm der relativ feste Gouda eine flüssige Konsistenz an. Bevor sich meine Erinnerungen an das Verklebter-Magen-Pappsatt-Mir kommt's gleich hoch-Gefühl andocken konnten, schlief ich doch ein, und hoffte, so schnell nicht wieder aufzuwachen. Im Wegdämmern stellte sich mir noch die Frage, warum es Vaterland heiße und Mutterschiff und nicht Mutterland und Vaterschiff. Bei Vaterschiff fiel mir auch Vaterschaft ein. Glücklicherweise sank ich dann in tiefen Schlaf, in dem ich bis zum frühen Morgen verharrte.