Günter Krass - Das Leben finden


Der Rucksack drückt, die Füße schmerzen, Bruno will weiter, Bruno will weg, von  zu Hause, von allem, weg vom alten Leben, um ein neues Leben zu finden, weg vom Zwang, vom Eingezwängtsein, weg von den Erziehungsberechtigten, von den Vorschriften, den Anweisungen, den Empfehlungen, den Regeln, den Absurditäten, die die Luft rauben, die den Hals zuschnüren, den Leib erdrücken, die wie ein Haufen Mutterboden lasten, der dir auf dein Gesicht geworfen worden ist, denkt Bruno. Der dich erstickt.
Die Füße schmerzen, der Rucksack drückt, Bruno will weg, weg von sich, von dem, der er ist und war und sein soll. Bruno fängt an zu rennen, wo ist der Horizont, denkt er, da wo es weiter gehen soll? Da wo die Zukunft beginnt?
Der Rucksack drückt, denn in ihm hat Bruno das Vergangene aufbewahrt, falls er es noch einmal brauchen könnte. Bruno weiß, er sollte diesen Sack, diese Last, dieses alte Leben wegschmeißen, weit weg, in einen Abgrund, um nie wieder daran rühren zu müssen.
Da ist der Horizont, hier ist der Abgrund! Das Eine nicht ohne das Andere.
Den Rucksack endlich wegwerfen, die Last loswerden, denkt Bruno, den Sack einfach in den Abgrund fallen lassen! Langsam lässt Bruno den Rucksack auf den Boden gleiten, er spürt, wie er leicht wird, befreit, als könne er fliegen. Bruno hebt sich empor und fliegt und fliegt. Die Luft saust an seinen Wangen vorbei. Endlich frei, denkt Bruno, endlich unendlich endlich.
Der Aufprall ist kurz und hart und blutig. Brunos Glieder zerschmettert, der Schädel aufgeplatzt. Bruno lächelt. Das neue Leben im Tod gefunden.

(Zu Mozart: Violinkonzert Nr.3, Adagio)