Günter Krass: Auf einem Bein kann man nicht stehen

Vladimir Kannikski: Das letzte Einbein
Schäips Gollipp kam jeden Monat. Er sammelte das Geld für die Schweinekasse, das waren 90 Pfennige, und die Sterbekasse, das waren eine Mark zehn. Was das genau bedeutete, wussten Bodo und Piete nicht, etwas wurde etwas erzählt von Rotlauf und totem Schwein, und es gäbe ein Ersatzferkel, das natürlich viel kleiner war, als ein möglicherweise gestorbenes. Und Sterbekasse? Darauf konnten sie sich keinen Reim machen, warum man fürs Sterben Geld bekam, man war doch tot und hatte nichts mehr davon.
Onkel Gollipp, wie wir ihn nennen mussten, hatte eine große, beigefarbene Kladde, in die er feinsäuberlich das einkassierte Geld eintrug, damit alles seine Richtigkeit hatte. Er saß bei dieser Tätigkeit am Küchentisch und die Mutter wusste, was zu tun war. Nach getaner  Arbeit, nach Kassieren und Eintragen, servierte sie ein klaren Schnaps, einen Doppelkorn oder einen Wacholder, das war das Ritual.
Onkel Gollipp hatte knochige Finger, er war ein hagerer Mann, der immer schon alt ausgesehen hatte. Bodo und Piete konnten sich nicht vorstellen, dass er einmal so alt gewesen sein konnte, wie sie selbst, geschweige denn, so ähnlich ausgesehen hatte. Onkel Gollipp war das personifizierte Alter. Der musste einfach Schweinekasse und auf jeden Fall Sterbekasse einsammeln.
"Nehmt man noch einen, auf einem Bein kann man nicht stehen", sagte die Mutter, auch das war ein Ritual, das den nächsten Schnaps einleitete.
Onkel Gollipp saß. Und wenn er stand, dann stand er auf zwei Beinen.
Nach dem zweiten Schnaps verabschiedete sich Onkel Gollipp bis zum nächsten Monat und ging zum Nachbarhaus, in dem exakt dasselbe ablaufen würde.
Bodo und Piete überlegten, wie viele Füße der Onkel haben müsste, wenn ihm in jedem Haushalt zwei Schnäpse für zwei Beine angeboten würden. Onkel Gollipp musste Tausendfüßler sein.
Das war aber unmöglich.
Nach seiner Kassier-Rundreise fiel es dem Onkel allerdings gelegentlich schwer, auf seinen zwei Original-Beinen noch zu stehen. Bodo und Piete veränderten den Spruch der Mutter dann und sagten ihn  leise auf: Auf einem Bein kann man schlecht stehen, auf zweien aber auch. Je nach dem, was man getrunken hat.