Günter Krass: Wenn Zwerge zu sehr hämmern

Zwerge sind einfach immer kleiner als andere.
Hinter den Bergen hämmern die Hämmer eifrig, Zwerge halten sie in festen Fäusten, emsig auf der Suche nach dem Glück, das sie in Wänden voller Edelsteinen finden wollen. Die Knöchel blutig gestoßen, Schweißperlen vor der Stirn starren sie irren Blickes auf das Ergebnis ihrer Arbeit. Eingerissene Wände, Türen morsch und träge, zersplittertes Glas. Der Himmel ist voller Trauer, immer wieder beginnen die Zwerge, hauen und schlagen auf das Gestein ein, reiben sich verlegen die Bärte, wenn ihnen die Puste ausgeht.
„Piet, wo ist meine kleine, spitze Hacke?“, fragt Claas. Zwerge haben eine Vorliebe für holländische Namen, so wie sie am liebsten die Löcher aus dem Käse schneiden möchten.
 Ewig schon warten sie auf Schneewittchen, das endlich, endlich aus ihren Becherchen trinken soll und in ihren Bettchen schlafen muss. Das ihnen endlich sagt, dass sie mir ihrer blödsinnigen Suche aufhören sollen, dass sie endlich in ihre Schaukelstühle sinken können, die Pfeifen entzünden und einen lauwarmen Cognac in ihren schwieligen Händen schwenken könnten. Das Leben hält noch schöne Seiten bereit. Auch für Zwerge. Was willst du tun, wenn dir das keiner sagt, weil du zu klein bist? Weil du ein Zwerg bist, in niemandes Augenhöhe. Dein Pochen und Klopfen aus tiefen Höhlen dringt an das Ohr derer, die dich nicht sehen. Derer, denen die Demut, die Bescheidenheit fehlt, nach unten zu sehen. Nur so nehmen sie dich wahr. Die Nasen hoch getragen, im Himmel, zu denen du aufsehen musst, geblendet sogar vom trüben Himmel, weil deine Augen von der ständigen Dunkelheit empfindlich geworden sind.
Arbeite weiter! Durch Arbeit zum Licht, auch wenn die Sonne untergeht. Schneewittchen wird wohl schon unterwegs sein.
„Piet, meine Hacke, nun sag schon!“, Claas lässt keine Ruhe.