Geschwister sollen musizieren


Die Mutter hatte ihnen einfach ein Klavier ins Kinderzimmer gestellt. Jonny musste dafür die Carrerabahn abbauen und in Kisten verstauen. Lange hatte er nach einem Kabel mit Stecker gesucht, um das Klavier anschließen zu können. Bianca war fünf Minuten älter und um einiges klüger, sie haute ihm eine runter und verriet ihm dann, dass ein Klavier keinen Strom benötigte. Jonny hatte noch nie mit Spielzeug gespielt, dass ohne Elektrizität funktioniert und er wollte das auch gar nicht. Trotzdem hatte die Mutter den beiden Geschwistern ein schickes orangefarbenes Klavier ins Kinderzimmer gestellt und für die nächste Woche die erste gemeinsame Unterrichtsstunde angekündigt. Bei einer schicken Party hatte sie ein stadtbekanntes minderjähriges Geschwisterpaar musizieren gehört und wünschte sich seitdem dasselbe für ihre Kinder. „Was sollen wir bloß tun?“, jammerte Jonny. „Alle werden über mich lachen und ich möchte viel lieber mit meinem automatischen Schaukelpferd spielen als Klavier zu üben.“ „Da hilft nur noch beten“, meinte Bianca. „Aber du weißt doch, dass Gebete manchmal nach hinten losgehen, wie beim Sams, dann heißt es ‚Bäh, falsch gewünscht‘ und so.“ Bianca war sich ziemlich sicher, dass das beim Beten nicht passieren könne. Zum letzten Mal in ihrem Leben faltete sie die Hände, senkte ihr Köpfchen und murmelte andächtig: „Bitte, lieber Gott, mach, dass Jonny und ich nie Klavier spielen müssen. Mach, dass die Klavierlehrerin vors Auto läuft oder dass ein Erdbeben kommt, bei dem das Klavier in einen tiefen, tiefen Krater fällt.“ Jonny war beeindruckt von Biancas intelligenten Gebetswünschen. Auch er hatte die Augen geschlossen und öffnete sie erst wieder, als Bianca recht selbstzufrieden „Amen!“ rief. Nie, aber auch nie wieder sprach die Mutter von diesem Tag an übers Klavierspielen, sie weinte viel, fragte viele Ärzte nach der plötzlichen Deformation der Hände ihrer Kinder und kaufte zwei Trommeln. Auch die Carrerabahn wurde an ein Kinderheim verschenkt.