Selektive Wahrnehmung im Tumorcentrum

Wenn man vier Stunden warten muss auf hartem Stuhl mit Kranken zusammen und fühlt sich selbst nicht krank, nicht wirklich dazu gehörig, dann kommt man auf Gedanken.
Die Gedanken aber werden durch die Qualität des Wartens und die Umgebung geprägt.
Wenn man in einem Zentrum für Hauttumore sitzt, um sich die läppische, wenn auch lebensbedrohliche Bienengiftgroteinsensibilisierung vom Halse zu schaffen, fühlt man sich unkrank, nicht gesund, aber unbedroht durch einen schleichenden, zerstörerischen Feind, den man nicht mit den Fingern zerquetschen kann.
Dei Wahrnehmung schwankt zwischen Eingelulltsein und Schärfung, das monotone Umblättern des Krankenhausprospektes der Dame in Grau und das Herumtippeln eines Patienten um den Tresen, der wohl Bewegung verordnet bekommen hat, und die Erwartung, Menschen mit ausgestanzten Löchern im Kopf, mit zugeklebten Nasen zu begegnen bestimmen das Thema, diktieren den Augen, was sie sehen sollen.
Dann plötzlich ein Mann im Anzug - nicht die typische Patientenkleidung - der einen Handkoffer - vielleicht sein Beauty-Case - mit sich trägt, und eilig über den Flur geht, den Kopf dem Körper etwas voraus, als sei er schon geistig im nächsten Raum.
An der Wange und über einem Teil des rechten Ohres ein schwarzer Balken, ein dunkelstes Muttermal, vielleicht sogar pelzig, mit schwarzen kurzen Borsten bewachsen, eine üble Hautveränderung, die eiligst- deshalb der schnelle Schritt des Mannes, der in direktem Gegensatz zum hilflosen Getapse des Tippelbruders steht- entfernt werden muss, damit sie nicht den ganzen Körper erfasse.
Vielleicht ist es die Schläfrigkeit des Wartens, die Trance oder Betäubtheit, von Krankenhausluft und stresshormonell geschwängerten Aerosolen erzeugt, die den Betrachter zu solcher Vermutung veranlassen und ihn nicht erkennen lassen, dass der Mann mit sich selbst spricht, so es sogar so aussieht, als spräche er in sein riesiges borstenbesetztes Muttermal, das sich bereits in seinem Ohr ausgebreitet hat. Vielleicht ist es Medienfeindlichkeit, denn das Objekt wird nicht dem Skalpell des Ausschneiders zum Opfer fallen, es handelt sich um eine Art Telefonclip, in den man zu seinem Gesprächspartner reden kann und dabei die Hände frei behält, z.B. um gleichzeitig eine SMS auf einem anderen Handy an seine Geliebte zu tippen.
So bleibt dem Wartenden nur die Chance, seine Erkenntnis zu revidieren.
Statt einen Tumor sehen seine Augen ein technisches Gerät, das das Leben erleichtern soll, wie es alle technischen Geräte tun sollen.
Aber: Krank ist das schon.
Dem Krankenhaus sei geraten, die Wartezeiten umgehenden zu kürzen, denn niemand weiß, welche Auswirkungen eine veränderte Wahrnehmung auf das Leben und die Welt insgesamt haben kann.