Daheim, nicht unterwegs: Etappe 9 - Mein trauriger Kaktus

Was ist mit meinem Kaktus los?, fragt sich Fredo. Einst war er so schlank und rank, so prick und gar nicht dick, da stand er stolz gereckt und wollte in den Himmel wachsen.
Jetzt liegt er auf der Seite, als sei er müde, als wolle er nicht mehr, was auch immer es zu wollen gibt für einen Kaktus.
Der Hals immer noch schlank und rank, der Kopf aber dick und schwer, dass der Hals ihn nicht zu tragen vermag.
Kaktus denkt zu viel, schießt es Fredo in den Kopf.
Worüber aber sollte ein Kaktus nachdenken? Dass er ihn, den Fredo, letzte Woche gestochen hat, als er ihn gießen wollte?
Kakteen brauchen wenig Wasser, denkt Fredo, es sind Wüstenpflanzen. Aber wenn ich meinen Kaktus schon mal gieße, sollte er wenigstens dankbar sein und nicht stechen.
Fredo zweifelt daran, dass der Kaktus darüber nachdenkt. Und wenn: Kann denn ein Kaktus Schuld empfinden? Wohl eher nicht. Der ist doch wie alle Pflanzen. In der Sonne rumstehen, nichts weiter tun und sich vermehren. Das, wovon alle Männer träumen. Deshalb trinken die auch so viel, weil ihre Träume eben nur Träume bleiben.
Ein Kaktus denkt nicht. Das sollte klar sein. Aber:  Empfindet er vielleicht?
Das kann doch nicht von ungefähr kommen, dass sich der auf die Seite legt und so tut, als sei er depressiv, oder als ob er schlafe, oder als sei ihm das ganze Gießen und Wachsen und in der Sonne Stehen und das Nichtstun und das sich Vermehren zuwider, abgrundtief zuwider. Genau genommen hatte sich dieser Kaktus überhaupt nicht vermehrt, er hatte sich nur vergrößert, und das hat soviel mit Vermehrung zu tun wie die unaufhaltliche Gewichtszunahme bei Männern. Die wachsen eben, werden aber nicht mehr.
Vielleicht hat dieser Irrglaube den Kaktus in diese verzweifelte Lage gebracht.
Wie war ihm zu helfen? Wie konnte man ihn aufrichten? War das Bild dieses Sukkulenten eine Allegorie auf die Menschen, auf das Leben schlechthin?
Fredo merkte, wie er plötzlich müde wurde und das dringende Bedürfnis verspürte, sich auf die Seite zu legen und ein wenig nachzudenken. Ein Viertelstündchen, murmelte Fredo, und war bei der letzten Silbe schon eingeschlafen.