Menschen am Strom

Menschen am Strom. Was wie ein Filmtitel klingt, ist keiner und gemeint ist noch nicht einmal der große, breite Fluss, der Strom.
Jeder stellt sich sofort vor, wie die Männer sich nach getaner Arbeit auf die Terrasse ihres Holzhauses setzen, ihre Meerschaumpfeife hervorkramen und friedlichen Rauch ausblasen, während sie versunken auf den träge dahinfließenden Strom blicken, der ihnen Ruhe und Kraft gibt. Feierabend. Die Frau rührt in den Schüsseln und bereitet emsig das Essen vor, damit der Mann nicht vom Fleische fällt.
Menschen am Strom leben ein entspanntes Leben, sie wissen: Alles fließt, nur wir nicht. Der Fluss ist niemals derselbe, weil er sich ständig ändert, ständig in Bewegung befindet. Wir bleiben. Wir sind. Wie wir sind. Der Mann schaukelt im Schaukelstuhl, schmatzend an der Meerschaumpfeife saugend, die Frau rührt in der Schüssel oder die Eier, um dem Manne ein Abendessen zu servieren. So war es immer, wo wird es immer sein. Vielleicht fehlen nur die Sklaven von damals, die melancholische Weisen auf der Mundharmonika spielten, was sie Blues nannten.
Diese Idylle ist Illusion, ein Trugbild der Agrarromantiker, die sich in die Vergangenheit denken wollen.
"Menschen am Strom" heißt heute: EON oder RWE. Da geht es um Kohle, auch wenn der Strom aus der Steckdose oder dem Atomkraftwerk kommt. Da schaukelt niemand, da stehen höchstens die Haare zu Berge, wenn man hochvoltigen Masten zu nahe kommt oder die Stromrechnung liest. Das Land drumherum bleibt friedlich, obwohl es genau weiß: Das hier hat nichts mit Romantik zu tun, da geht es ums Geschäft, da ist der Mensch Nebensache, egal wie viele Elektrogeräte er anschließt.
Schön, dass die Mundharmonika auf Strom verzichten kann, und nur durch die eigene Energie gespeist wird. Der moderne Mensch ist Sklave der Energieriesen und kann sich nicht befreien. Letztlich eine traurige Weise, die er auf seinem kleinen Instrument bläst, und das vielleicht ein wenig heiser antwortet, will ihm Trost sein in einem Leben, das nach Kilowatt berechnet wird.