Die Rückkehr des Wackeldackel



Da sitzt er nun und wackelt bedächtig mit dem Kopf, als könnte er kein Wässerchen trüben. Und richtig: Er kann kein Wässerchen trüben. Er ist eine jener Kreaturen, die uns das Ja-Sagen, das Abnicken beigebracht haben. 
Einfach durch Vormachen. Learning by Doing kannte damals noch keiner, aber intuitiv haben wir alle gefühlt, dass hier etwas Großes passiert. Das Abnicken wurde gesellschaftsfähig. Wenn der wackere Waidmann darunter auch das Erlösen des Tieres durch das Erstechen am Atlaswirbel versteht, so heißt Abnicken das lautlose Jasagen und bedächtige Zustimmen z.B. in deshalb homogenen Diskussionen mit anschließender Abstimmung. Der Versammlungsleiter referiert, was er sich so vorstellt, monologisiert, provokante Fragen werden abgeschmettert ("Das gehört jetzt hier aber nicht hin!"), und schließlich wird ein Antrag gestellt, den die meisten sowieso nicht verstehen, weil sie nicht zugehört haben. Da ist es das Beste, einfach zu nicken. Das hat uns der Wackeldackel beigebracht.
Als der Wackeldackel erfunden wurde, wies man ihm einen Platz unter dem Heckfenster eines PKW mit Hutablage zu. Dort sollte er der Toilettenrolle, die durch eine Häkelmütze aufgewertete worden war und oft statt eines Hutes dort stand, Gesellschaft leisten. Jahrelang saßen Häkelmütze auf Toilettenrolle und Wackeldackel nebeneinander.
Der Wackeldackel nickte bedächtig. Manchmal, wenn der Fahrer falsch geschaltet oder scharf gebremst hatte, bekam die Nickbewegung etwas Hektisches. Aber zusammen mit dem Plastikblumenstrauß in der Plastikvase am damals noch senkrechten Armaturenbrett und einer Christopherusplakette, die die Fahrt beschützen sollte, gaben der Wackeldackel und die ummützte Toilettenrolle dem Wagen etwas Gemütliches, etwas Anheimelndes, so, als sei man im Wohnzimmer unterwegs.
Einem Kind, das in dem neu erworbenen Fahrzeug unterwegs sein musste, konnte schon mal schlecht werden. Es war nicht schön, wenn sich das Ergebnis des Schlechtwerdens sich ins Fahrzeuginnere ergoß. Das bekam man nie wieder aus den Sitzen heraus und der neue Wagen musste schnell verkauft werden. Da hieß es immer schnell reagieren. Rechts ran, Tür auf, das Kind rausgerissen und mit dem Kopf über das Trittbrett gehalten oder in den Straßengraben, je nachdem, wie lange man schon das Genösele ignoriert hatte.
Hatte der Wackeldackel damals beruhigende Wirkung auf aggressive nachfolgende Fahrzeugführer, so konnte das für ein vorn sitzendes Kind ganz andere Folgen haben. Kinder wollen immer gerne vorne sitzen und sagen dann einfach, hinten würde ihnen schneller schlecht. Das glaubt man so lange nicht, bis sich der erste Mageninhalt auf den Rücksitzen wiedergefunden hat. Jetzt muss das Kind nach vorn, weil man es da auch schneller aus dem Zweitürer herausbekommt. Es selbst glaubt, man habe auf sein krankes Gleichgewichtsorgan Rücksicht genommen und fühlt sich deshalb ernstgenommen. 
Rudi ist mal wieder schlecht. Er sitzt auf dem Beifahrersitz und schaut auf das vor ihm fahrende Auto. „Schau auf den Horizont!“, bellt der Vater, der das beim Segeln immer macht, wenn ihm das Schaukeln auf den Magen schlägt. Es ist aber kein Horizont da, nur ein Auto mit einem Heckfenster, in dem neben einer Toilettenrolle, rosa-weiß umhäkelt, ein Wackeldackel sitzt. Die Straße ist holprig und der Kunsthund schaukelt unregelmäßig mit dem Kopf. Rudi hat den Hundekopf fixiert und folgt ihm automatisch; Rudi macht dieselben Kopfbewegungen wie der Plastikrüde. Die Übelkeit steigert sich mit der Anzahl der Kopfbewegungen; Rudi schluckt den Speichel, der sich gesammelt hat, hinunter. Er presst die Zähne aufeinander. Er schluckt. Der Wackeldackel wackelt mit dem Kopf. Rudi wackelt mit dem Kopf. Rudi schluckt. Plötzlich kommt die Mutter von der Rückbank aus mit einem 4711-Erfrischungstuch, um dem Jungen über die Stirn zu wischen, so als könne ihr Lieblingsgeruch das verstörte Gleichgewichtsorgan von Rudi betören oder gar betäuben. Der kopfwackelnde Rudi verpatzt die Hilfeaktion, das Tuch fährt quer über sein Gesicht, der lähmende 4711-Geruch breitet sich in ganzer Fülle aus und beschleunigt den Prozess der wachsenden Übelkeit. Rudi schluckt noch einmal, presst die Lippen zusammen, kann aber das Geschehen weder kontrollieren noch aufhalten. Das Drama nimmt seinen Lauf. Zu spät fährt der Vater rechts ran; Rudi spuckt einen zweiten Schwall Übelkeit auf den Gehweg, direkt neben eine Parkuhr, hustet und schluckt. Zu spät.
Der Wackeldackel rauscht in seinem Fahrzeug davon; niemand wird ihn zur Rechenschaft ziehen können. Ohne ein Wort gebellt zu haben, hat er der Welt in seiner Nähe eine unerwartete Dynamik verschafft; durch Nicht-Tun, durch Beifälligkeit, durch Zustimmung. Dir ist schlecht. Genau. Du hast Recht. Dir ist sogar richtig schlecht. Ganz genau. Also los! Worauf wartest du noch?
Wenn wir den Wackeldackel auch vermissen in den Heckfenstern der deutschen Autos, so sollten wir erst einmal die Heckfenster selbst vermissen, die es kaum noch zu sehen gibt. Seit es Mode geworden ist, von seinem letzten Bandscheibenvorfall zu erzählen, ist es auch völlig normal, Autos zu fahren, in die man fast aufrecht stehend einsteigen kann. Denen fehlen allerdings die Heckfenster mit Hutablage. Deren Heckfenster sind senkrecht. Hinter ihnen befindet sich der Stauraum oder der Gitterkorb des Golden Retrievers Beppo.
Der Wackeldackel aber ist nicht verschwunden.
Der Wackeldackel reinkarniert immer wieder mal in Menschen, die in Konferenzen und beschlussfassenden Versammlungen beifällig nicken, ohne den Mund aufzumachen, ohne Gegenrede Ja sagen, weil es so gemütlich ist. Wer jemals in der Rolle des Rudi gewesen ist, dem kann allerdings schnell schlecht werden; dazu ist nicht einmal eine Flasche 4711 nötig.