Einst ...

... bewahrten die Eltern die abgetrennte Nabelschnur, das abgeschnittene Löckchen und den ersten freiwillig ausgefallenen Milchzahn auf, um sich und ihren kleinen Liebling beizeiten ans Klein- und Süßsein zu erinnern. Tatsächlich hielten sie später der pubertierenden Rotznase die in einer Plastikklemme verharrenden Nabelschnurreste unter die Nase und brüllten: Da siehst du, wer dir das Leben überhaupt erst ermöglicht hat. Und heute hängst du immer noch an der Nabelschnur, an der finanziellen zumindest, und so lange du kein eigenes Geld verdienst, machst du, was ich dir sage.
Zwischen diesen beiden Entwicklungsstadien stellte der Zahnarzt möglicherweise irgendwann die Behauptung auf, im Mund sei nicht genug Platz, und weil das Kind ohne Schneidezähne doof aussähe, müssten die Backenzähne raus, und die willenlosen Eltern und das sprachlose Kind fahren nun regelmäßig zum Zahnarzt und lassen es hilflos zu, dass ein Backenzahn nach dem anderen rausfliegt, was nicht weiter tragisch ist, weil diese sowieso schon fast nur noch aus schwarzen Plomben bestehen. Doch es bedeutet auch Schmerzen und Blut und Verlust, aber das Kind ist alt genug, das Leid in einen Triumph zu verwandeln und sucht sich eine Piratenschatzkiste mit freundlich lächelndem Totenschädel und bewahrt seine Trophäen dort auf. Das Kind lernt daraus, dass sich aus jedem Schmerz, aus jedem Verlust etwas Gutes gestalten lässt und glaubt fest daran, dass das immer so weiter geht.

Bis es, inzwischen eine sie oder ein er, immer mehr ausgefallene Haare zusammenfegen und aus dem Waschbecken flitschen muss, bis Kontur und Straffheit des Körpers verloren gehen und schließlich auch der eine oder andere Zahn wiederum den Mund verlässt, natürlich nicht freiwillig. Vielleicht ist ja noch ein Plätzchen in der Schatzkiste, nicht für die vielen ausgefallenen Haare, nicht für die fehlende Elastizität, aber vielleicht für einen stattlichen großen Zahn. Doch das freundliche Lächeln des Schädels sieht nun hämisch aus, die kleinen, unschuldigen Backenzähne, die mehr Zeit in der Kiste als im Mund verbracht haben, machen sich extra groß und verwehren dem Neuankömmling den Zutritt. Natürlich hat das große Kind gar nicht erst darum gebeten, den Zahn mit nach Hause nehmen zu dürfen, erstens konnte es nicht sprechen und zweitens hätte es das kindisch gefunden, aber in Wirklichkeit wollte es gar keinen Beleg für das allmähliche Bröckeln, die Auflösung, Stück für Stück, und noch war die Aussicht darauf, dass aus diesem Speicher von Kalzium, Wasser, Fetten, Eiweiß und wer weiß was noch alles dazugehört, kurz Mensch genannt, vielleicht eine neue Nabelschnur, eine neue Wirbelsäule, eine neues, wenn auch nicht unbedingt menschliches Gehirn gebildet würde. Mit Wundschmerzen konnte einem dieser Kreislauf des Lebens gestohlen bleiben.