Günter Krass: Haarschnitt

Missglückte Irokesenfrisur
Bleib still sitzen, sagt der Vater und er meint es ernst.Bodos Füße jucken und kribbeln, und er will nicht mehr still sitzen. Der Hintern tut weh. Bodo sitzt auf einem harten Brettstuhl ohne Kissen. Der Vater hält in der Hand die Haarschneidemaschine und fährt mit diesem gezackten Ungetüm immer wieder an Bodos Kopf entlang. Und das schon seit einer Stunde.Immer wieder findet er noch eine Stelle, die verbessert werden muss und setzt erneut an. Der Haarschnitt sollte schon längst fertig sein.
Dabei ist der ganz einfach. An den Seiten sind die Haare ganz kurz, oben sind sie etwas länger. Das ist ein Facon-Schnitt, oder was der Vater dafür hält.
Die Schere ist stumpf. Solange noch etwas zwischen die Zacken gerät, zwackt und reißt es. Manchmal ziept es. Es tut weh. Bodo schweigt, manchmal stöhnt er etwas. Zu klagen wäre Kritik. Der Vater will keine Kritik, er will gute handwerkliche Arbeit leisten und das dauert eben.
An den Seiten und am Hinterkopf sind die Haare weg, da gibt es nichts mehr zu zwacken oder ziepen. Jetzt geht es darum, den Rand zu den längeren Haaren gleichmäßig zu schneiden. Die Frisur soll Facon bekommen. Das muss ohne Wasserwaage gehen. Der Vater arbeitet gern mit der Wasserwaage, wenn er zum Beispiel Bilder aufhängt. Die sollen gerade hängen. Bodos Haarschnitt soll auch gerade sein, was sollten denn die Leute über den Vater denken, wenn der Sohn mit einer schiefen  Frisur herumliefe? Dass er vielleicht keine Wasserwaage hätte? Eine Wasserwaage lässt sich am Kopf schlecht anlegen, also muss nach Augenmaß geschnitten werden; das ist viel schwieriger.
Bodos Füße jucken. Wie lange noch?, würde er gern fragen, aber er schweigt lieber.
Sitz still!, befiehlt der Vater und drückt die Maschine immer wieder in der Hand zusammen. Die Maschine hat keinen Motor. Sie wird mit Muskelkraft bedient und ist langsam. Die Haare ziehen sich beim Zusammendrücken zwischen die Zacken des Schneidekopfes und wenn die Feder die Maschine wieder auseinanderdrückt, bleiben die Haare hängen, weil die Messer stumpf sind.
Bodo schwitzt vor Ungeduld und betet, dass es endlich vorbei sein möge.
Der Vater ist schließlich soweit.
Halt! Sitzen bleiben! Da ist noch etwas, das weg muss. So geht das nicht.
Bodo beißt die Zähne zusammen und denkt an ferne Länder, an Indianer und Ritter. Indianer, deren langes Haar im Wind weht, wenn sie auf ihren wendigen Pferden über die Prärie reiten. Ritter hatten auch lange Haare. Bodo hat kurze Haare.
Indianaer konnten jede Folter aushalten, ohne einen Ton von sich zu geben. Das wird er auch nicht tun.  Im Herzen ist Bodo ein Indianer, der aus Versehen in Dutzen geboren ist.
Der Vater ist fertig. Bodo kann es kaum fassen, will aber auch nicht zweifeln. Fertig. Erlöst. Frei.
Er steht auf und stampft mit dem Fuß auf, damit das Jucken und Kribbeln aufhört. Erst links, dann rechts.
Er guckt in den Spiegel. Ein Indianerhaarschnitt ist das nicht. Ein  Irokesenschnitt mit missglücktem Mittelteil vielleicht, an den Seiten kahl, oben länger.
Bodo mag die Irokesen nicht.
Manchmal ist der Haarschnitt, die jetzt ja Frisur heißt, ein Teil der langen, langen Marter bis zum nächsten Mal.