Günter Krass: Menschliche Unzulänglichkeiten - Mädi (Tote Hose)

Mädi hatte wieder diese schwarzen Tränen im Gesicht, die Ausdruck tiefster Trauer waren, Ausdruck tiefsten Selbstmitleids.  Sie fasste sich demonstrativ an die Hüfte, an den Rücken, in den Lendenwirbelbereich und stöhnte leise. Niemals stöhnte sie laut, das wäre aufdringlich gewesen. Das leise Stöhnen und Seufzen sollte das Gewissen ihrer Mitmenschen wecken, vornehmlich das schlechte, das diesen dann einredete, sie würden Mädi zu wenig beachten, ihr Leid nicht teilen und egoistisch ihr eigenes Ding machen. Mädi war gut eingepackt, um sich nicht schon wieder zu erkälten. Es war nicht gut, immer dasselbe Leiden vorzuführen, vor allem nicht ein profanes, das jedermann treffen konnte und wohl schon getroffen hatte. Jedermann hätte dann den durch die profane Krankheit entstehenden Leidensdruck nachvollziehen können und hätte gleichzeitig Mädi relativieren können, hätte sie in Beziehung setzen können zu dem eigenen Leid und dem eigenen Egoismus, der doch bei allen aus dem Leid entspringt. Oder aus seiner Vermeidung. Eine Erkältung war profan.
Karel wollte immer den Ball flach halten. Es selbst war nicht groß, und da ist es gut, jeden Ball, den das Leben spielt, flach zu halten. Damit blieb er kontrollierbar. Alles beschwichtigte Karel und dämpfte jede Erregung mit der gleichen Geste: Das Handinnere zum Boden drückte er leicht die dicke Luft, die sich unter seiner Hand gebildet hatte. Eine Geste, die ein „Ruhig, Brauner“ forderte, in betulichem Ton, die das ungestüme braune Pferd beruhigen sollte.
Pippo schlich sich gern weg, wenn Mädi mit ihren Krankheiten anfing. Das hieße wieder in der Ecke stehen und traurig dreinblicken. Pippo wollte draußen sein und Rolf, den blinden Rollstuhlfahrer, ärgern. Dem erzählte er, wie groß er sei, und da Rolf Pippo niemals anfassen durfte, musste Rolf glauben, dass Pippo mindestens einen Meter und fünfundsechzig groß war. Pippo war einen Meter  zwanzig. Seine Fistelstimme hätte Rolf nachdenklich machen müssen, aber der wollte Pippo nicht anzweifeln und dachte, dass Menschen mit gesunden Beinen und einer Körpergröße von 1, 60 Metern ein Recht darauf hätten, eine Fistelstimme zu haben.
Aber Pippo kam nicht weg. Er stand im Türrahmen und wusste, dass es zu spät war,  jetzt zu gehen.

(Teil 2 folgt)