"Weiser Mann" Olli Dallilahmer: Rasenmähermeditation

Das Chaos schwappt über dir zusammen, dein Arbeitszimmer wächst, die Papiere stapeln sich, die Büchertürme drohen einzustürzen, das Unerledigte wächst durch die Ritzen deines Dielenbodens, du weißt nicht, wo du anfangen sollst, selbst der sonst unnütze Ratgeber, wie man sein Leben vereinfacht, ist im Bermudadreieck deines Papiermülls verschwunden. Du bist den Tränen nahe. Die Steuererklärung ist längst überfällig, aber seit du im letzten Jahr ein neues Ordnungsprinzip ausprobiert aber nicht wirklich umgesetzt hast, findest du deine Quittungen nicht mehr wieder.
Jetzt nicht Staubsaugen. Jetzt hilft die Rasenmähermeditation. Du schiebst das frisch betankte Gefährt, das leicht nach Benzin duftet, auf die Fläche, die dicht bewachsen ist mit Gras, dessen Halme leider ungleiche Längen aufweisen, du schiebst den Kontakt auf die Zündkerze, greifst zum Quickstarterseil und ziehst. Der Motor röhrt auf und gleichzeitig schießt die Ruhe in deinen Körper. Eine Ruhe, die dir Hoffnung macht: Du kannst alles schaffen, du kannst alles regeln, du kannst alles ordnen. Du drückst den Bügel des Radantriebs nach vorn und langsam, aber kraftvoll beginnt der Mäher seine Arbeit, stetig und unerbittlich kürzt er Halm um Halm auf gleiche Länge, gibt dem gerade noch Ungleichen das Gleiche zurück, die Ordnung, das Schöne. Unter deinen Füßen wächst die Fläche, die hinausschreien will: Du hast uns unseren Sinn zurückgegeben. Wir sind Rasen, eben noch Gras, sind wir jetzt Rasen!
Bahn für Bahn ziehst du mit deinem ordnenden Schnitter, der getrieben von dem Wunsch nach Gleichheit, nach Einheit, nach frischem, duftendem Gartenschnitt voranbrummt, von deiner leichten Hand geführt, winzige Impulse drängen ihn in die richtige Richtung und die Ordnung wächst, das Chaos muss ihr weichen. Du bist der Herrscher, du zeigst wie die Regeln deines Universum lauten, wie die Gestze, die du geschaffen hast. Immer kleiner werden die spiralfömigen Bahnen, winden sich zum Zentrum, zum Ziel, zum Mittelpunkt, zur Überwindung der Unordnung, zur Ruhe, zum Einswerden des Rasens mit sich selbst.
Du bist am Ende des Weges, dein Blick schweift über dein Werk: Hier hat deine Hand gewaltet, hier hat sie Neues erschaffen, aus dem Chaos die Ordnung geschöpft. Der Schnitter schweigt, du fährst mit der Hand über den heißen Körper des Mähers und streichst etwas Rasenschnitt vom Fangkorb. Du seufzt. Die Ruhe ist in dir. Nichts kann dich drängen, nichts in die Hektik des Alltags zwingen. Du hast die Kontrolle. Die Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung ruht im Ablagekorb, der Bücherturm steht, das Arbeitszimmer schweigt. Alles ist, wie es sein soll.
(Zum Photo: Ein unmeditativer Rasen. Ein achtlos hingeworfener Ast stört das Gleichmaß. Auch ist das Gras von einer Struktur, die kein meditatives Mähen zulässt; jahrelang wurde hier nicht vertikutiert, was die Basis für einen guten Meditationsrasen ist.)