Zeit zu warten: Beim Arzt

Wann hatte ich den Termin noch mal? Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass bereits eine Stunde verstrichen ist. Eine Stunde Sitzen im Wartezimmer. Wegen Genickstarre ist Lesen nicht möglich, Sitzen ist schmerzhaft aus gleichem Grund, dabei hatte ich doch der Dame am Telefon gesagt, dass mein Fall akut sei, schmerzhaft; zeitlich sei ich sowieso immer knapp. Kommen Sie doch so um acht. Fünf vor war ich da. Momentchen noch im Wartezimmer? Die Frage guckt fast durch mich hindurch. Momentchen noch im Wartezimmer? Wer jetzt? Ich? Und was jetzt? Warten? Ich habe doch einen Termin, extra um nicht zu warten. Momentchen noch, das klingt nach Viertelstündchen beim Zahnarzt, was letztlich 80 Minuten bedeutet. Wie lang ist ihr Momentchen?, versuche ich rauszufinden. Dauert nicht lange. Aha. Alles ist relativ. Genickstarre mit Schmerzen auf einem kurzlehnigen Plastikstuhl mit Kunstlederpolsterung - das ist nicht schön. Ich bewege mich wie eine Schildkröte. Das passt gut, denn für eine Schuldkröte ist ein Tag wie eine Viertelstunde, ein halber Tag ein Momentchen und eine Stunde vergeht im Fluge. Schildkröten können nicht fliegen. Das Wartezimmer ist nicht einmal voll. Drei andere Personen sitzen schweigend da, lesen oder starren an die weiße Raufasertapete. Ich starre an den Boden, weil ich nicht lesen kann. Das tut weh. Ich betrachte einen Prospekt aus der Ferne, dann den hässlichen Trinkbecher einer wartenden Frau, die in einem etwa 700 Seiten dickem Taschenbuch liest und gelegentlich kichert. Sie lacht darüber, denke ich, dass ich kein Buch dabei habe, um die Wartezeit bis zum Arztkontakt zu überbrücken. Die Frau hat Getränke und Speisen dabei und ein Buch, für das ich eine Ferienwoche brauche. Was ist in dieser Praxis los? Nach 30 Minuten hat weder jemand das Wartezimmer betreten, noch verlassen. Jetzt! Eine Frau kommt rein und nimmt zwei Lesemappenzeitschriften mit; wahrscheinlich kalkuliert sie eine Zeit von ca. 2 Stunden, das ist nicht viel, will man beide Hefte durchbekommen. Aber warum bleibt sie nicht im Wartezimmer, und wo kommt sie überhaupt her?Ich will drankommen. Draußen immer wieder Telefonate, Gespräche, Frau Dings, Herr Bums, Frau Sowieso, gehen Sie schon mal durch. Durchgehen! Das hat mir keiner gesagt. Momentchen noch ins Wartezimmer, war die Parole. Momentchen. Zwei Minuten habe ich kalkuliert. Warum geht es draußen weiter, hier drinnen aber nicht? Ich betrachte eine Vitrine mit altem Arztwerkzeug, Zangen, Klammern, Riesenspritzen. Draußen an der Rezeption geht das Leben weiter, hier stagniert alles, als seien wir auf ein Abstellgleis geschoben. Der Mann neben mir steht auf, will wohl zur Toilette. Oder ist Hellseher. Ich wollte sie gerade holen!, tönt es vom Tresen. Haha!Guter Witz!, lache ich in mich hinein. Ich wollte Sie gerade holen! Wenn der nicht aufgestanden wäre, würde der morgen wieder in der Warteschleife sitzen, oder immer noch. Oder verschimmeln. Und der ist noch vor mir dran! Ich gehe zum Klo. Gucke vorwurfsvoll und schmerzverzerrt zur Arzthelferin, die aber betriebsam in Unterlagen wühlt. Ich schließe die Klotür geräuschvoll und pinkle aus Protest im Stehen. Zurück im Wartezimmer nehme ich mir vor, die Schuhe der anderen Wartenden einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Alle weiteren Objekte des schlicht möblierten Raumes habe ich schon durch. Mit leisem Stöhnen setze ich mich. Die Leidensgenossen sind in ihre Lektüren vertieft. Die Tür geht auf. Herr Rennemann, das bin ich, und Frau Obert, das ist die Dickbuchleserin, bitte gehen Sie schon mal durch. Zwei auf einmal! Jetzt geht's aber richtig los! Wir können durchgehen, das heißt, bis zum Kontakt mit dem Heiler sind es nur noch etwa 20 Minuten, denn der muss sich erst durch die anderen Sprechzimmer arbeiten, in denen Leute sitzen, die von vornherein durchgehen konnten oder noch von gestern da sitzen. Geschafft. Der Rest ist Nebensache. Ich denke nach, bis der Arzt kommt: Warum bestellt mich die Telefondame nicht einfach eine Stunde später? Dann müsste ich zwar immer noch zwanzig Minuten warten, aber das wäre doch ökonomischer; da würde ich Lebenszeit sparen und könnte zu Hause schon gut ein Stück teilgenesen.

Meine Gedanken werden abrupt unterbrochen: Der Medizinmann drückt mir die Hand. Wo drückt's denn? Die Behandlung dauert nur einen Bruchteil der Wartezeit, und das ist gut, denn ich bin ja zeitlich immer etwas knapp.

Ich beschließe, das nächste Mal eine Stunde eher anzurufen und dann eine Stunde später hinzufahren. Schade, dass um sieben noch keiner ans Telefon gehen wird. Schade auch, dass die Wartezeit erst nach Betreten der Praxis läuft, egal wann der Anruf war, völlig egal, wann ich einen Termin habe, überhaupt vollkommen egal, wann ich losgefahren bin.