Günther Krass: Erinnerungen (1) - 1959

Uwe Schmiegler war ein Angeber. Er war ein Jahr älter als ich, und zwei älter als Fiete, der nicht mein Freund sein durfte, weil er schon mein Cousin war. Uwe Schmiegler ging in die erste Klasse der Volksschule und musste jeden Morgen an unseren Häusern vorbei. Er gab mit seinen, wahrscheinlich noch geringen, Lese-, Rechen- und Schreibfähigkeiten an und wirkte auf uns unheimlich alt. Zwischen ihm und uns mussten Welten, ganze Zeitalter liegen. Damals wurde mir schon bewusst, welche Macht Bildung darstellte und wie unterlegen der Ungebildete war. Wir Unwissenden waren gezwungen, noch ein halbes Jahr, Fiete sogar anderthalb, zu warten; und selbst dann würden wir immer dem großmäuligen Uwe Schmiegler hinterherlernen; unerreichbar würde er die gesamte Schulzeit einen nicht aufholbaren Vorsprung behalten. Es sei denn, er bliebe sitzen und müsste die Klasse wiederholen. Daran mochten wir nicht denken, denn dann wäre er vielleicht in meiner Klasse gelandet. "He, Schmiege!", riefen wir ihn an. Wir lagen hinter der Ligusterhecke, hatten sicheren Abstand und Lust, Schmiegler zu verwirren. Schmiege, das war ein Gerät, das Tischler brauchten; die genaue Bedeutung kannten wir nicht, aber der Begriff war geeignet, Schmiegler zu degradieren, indem wir ihn zweier Buchstaben beraubten und mit den Überresten seines Nachnamens ansprachen. "He, Schmiege!", wiederholten wir. "Schmiege, alte Ziege!", setzten wir nach. Schmiegler blickte sich um, schaute nach rechts, nach links, was blöd genug war, denn dort begfand sich nur ein großes Steckrübenfeld; er sah uns nicht. "Schmiege, Ziege, Fliege!", skandierte wir. Wir ahnten Schmieglers Zähneknirschen, seine Wut, trotz seines Bildungsvorsprungs, die Verursacher der Beleidigungen nicht zu entdecken und die Vergehen ungesühnt lassen zu müssen. Sowieso lief seine Zeit; die erste Stunde würde beginnen, mit ihm oder ohne ihn; zu Zeiten, als der Rohstock noch regierte, war es äußerst riskant, eine Verspätung in Kauf zu nehmen. Je nach Laune des Unterrichtenden konnte ein mildes, verstehendes Lächeln die Konsequenz sein, oder aber ein angeschnittener Schlag mit dünnem Peddigrohr, das die Korbflechterei neben der Schule regelmäßig lieferte. "Ratten!", zischte Schmiegler vor sich hin. "Ich kriege euch noch!" Wir hinter der Ligusterhecke waren zufrieden; Schmiegler würde vor Zorn nicht richtig rechnen und auch nicht sauber schreiben können. Morgen würden wir ihn mit einem Küchenmesser bedrohen, um festzustellen, wie sein Fähigkeiten im Kurzstreckenlauf waren. Erst mal galt es, den Tag ohne lästiges Lernen und ohne quälende Hausaufgaben an der frischen Luft in Gräben und auf Wiesen zu genießen.