Polarlichter gucken (Leserbrief)

Lieber Bodo,
vor ein paar Tagen habe ich in meine Suchmaschine den Begriff „Eichkater“ eingegeben und bin auf deiner Seite gelandet. Eigentlich finde ich private Internetseiten furchtbar, aber deine hat mich angesprochen und jetzt habe ich schon das meiste von dir gelesen. Vor allem die Themen hinter den Themen, also deine großen Themen hinter den „Labels“ haben mich angesprochen, das Thema Vergänglichkeit bzw. die Angst vor dem Tod, die Heimat bzw. die Suche danach und der Überfluss. Ich habe mir ein paar Gedanken zu deiner Person gemacht und tippe auf arbeitslosen Lehrer, Landschaftsgärtner oder Museumswärter.
Nachdem ich mich bisher nur mit ein paar Kommentaren zu Wort gemeldet habe, möchte ich dir jetzt mal einen richtigen Leserbrief schreiben. Ich bin also April und wohne zur Zeit in Norwegen. Eigentlich bin ich Sozialarbeiterin in Rödermark und betreue Tina, eine junge Straftäterin, die sich allen Maßnahmen des Jugendamtes bisher entzogen hat. Wir sollten hier ein Jahr lang in einer kleinen Hütte in der Nähe des Polarkreises wohnen, ohne Internet und Playstation, fernab der Zivilisation. Leider ist Tina vor drei Wochen abgehauen und jetzt sitze ich allein hier. Ich vermute, dass sie sich noch in der Nähe aufhält, denn vorgestern wurden aus dem Tischlerschuppen alle meine heimlich mitgebrachten Weinvorräte geklaut. Jetzt habe ich nur noch Wodka hier und weiß endlich, was Einsamkeit bedeutet, nämlich sich um niemanden kümmern können und niemanden haben, der sich um einen kümmert. Deshalb habe ich mein heimlich mitgebrachtes Laptop angeschlossen, um wieder ein bisschen von der Welt mitzubekommen. Obwohl ich wohl erstmal bei Bodos Welt bleiben werde.
Ich habe jetzt Zeit, den ganzen Tag über unendlich viel Zeit – abgesehen vom Holzhacken, das Feuer im Ofen in Gang halten und kochen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ein Tag 48 Stunden lang ist, wenn man überhaupt von „Tag“ sprechen kann, denn zur Zeit ist es höchstens zwei Stunden am Tag hell. Neben dem Wodka halten mich im Augenblick vor allem die Polarlichter am Leben, die einfach unbeschreiblich sind. Also versuche ich es gar nicht erst. Ich habe dir ein Bild mitgeschickt, das ich gestern abend (oder vorgestern? oder vorvorgestern?) aufgenommen habe. Und ich habe schon angefangen, kleine Geschichten zu schreiben, weil ich so unendlich viel Zeit habe. Vielleicht schicke ich dir mal eine.

April aus Norwegen

P.S. Rödermark liegt ja in Hessen. Nach dem Scheitern meines Projekts mit Tina müsste ich heute eigentlich Roland Koch wählen. Aber ich habe vergessen die Briefwahlunterlagen anzufordern und ich würd’s trotzdem nicht tun.
„Eichkater“ habe ich als Suchbegriff eingegeben, weil ich immer schon mal wissen wollte, was das ist. Ist das ein Eichhörnchen? Ich weiß es immer noch nicht.
Warum ich April heiße, erkläre ich dir später mal.
(Zum Foto: So sehen natürlich Polarlichter nicht aus. Aber so, wie man den Einwohnern von Amerika Glasperlen als wertvollen Schmuck andrehte, so versuchen heute noch versteckte Konquistadoren dem uninformierten Volk billige Plastikkugeln als Polarlichter gegen teures Geld aufzuschwatzen. Vorsicht in der Innenstadt!)