Der Gastbeitrag: Elvis

Ich saß auf dem Schaltpult und wippte mit dem rechten Bein, das ich über das linke geschlagen hatte, rhythmisch auf und ab, eine Bewegung, die Jean jedes Mal wütend machte. Natürlich wusste ich das. Doch Jean wollte offenbar keinen Streit. Er drehte sich weg und begann mit seinem Handy Fotos zu machen, er fotografierte durch das Fenster, obwohl es draußen nichts zu sehen gab als das dunkle Weltall, alles war schwarz, nur ganz weit entfernt funkelten die Lichter einer uns unbekannten Galaxie. Als ich mit dem wippenden Fuß gegen den Drehstuhl stieß, der vor dem Schaltpult stand, und dieser dadurch auf seinen vier Rollen quer durch den Raum bis vor Jeans Sessel schoss, fuhr er herum und schaute mich wütend an. „Du bringst noch die ganze Programmierung durcheinander, wenn du hier weiter Stühle gegen empfindliche Bordgeräte katapultierst, du blöde Kuh!“ Ich erwiderte: „Dann passiert wenigstens endlich mal wieder was, vielleicht zeigt uns ja eine zufällige neue Programmierung einen Ausweg aus der ganzen Scheiße hier!“ Ich wartete auf Jeans Antwort, aber er wollte offenbar wirklich nicht streiten, denn er drehte sich einfach wieder um und schwieg, was mich halb wahnsinnig und komplett wütend machte.
Seit 7 Jahren waren wir mit unserem Raumschiff in besonderer Mission unterwegs. Es hatte auf der Erde ernstzunehmende Hinweise darauf gegeben, dass auf einigen Planeten außerhalb unseres Sonnensystems verstorbene Stars aus der Musikbranche weiterlebten. Jean und ich waren im Auftrag einer großen amerikanischen Plattenfirma unterwegs. Wir sollten diesen Hinweisen mit einem Team aus fünzehn Leuten nachgehen und möglichst viele Rocklegenden, die am Suff oder anderen berufsbegleitenden Krankheiten gestorben waren, ausfindig machen. Den ersten Streit gab es, als ich Jean verwehrte, auf dem Mond nach Keith Moon Ausschau zu halten, denn es war eindeutig von Erscheinungen außerhalb unseres Sonnensystems die Rede gewesen. Das traf Jean sehr, und meine harte Entscheidung führte zu einem tiefen Riss in unserem Verhältnis, das sich während unserer Forschungsreise vielleicht auch ganz anders entwickelt hätte.
Danach folgten viele Monate erfolgloser Suche, die an den Nerven der gesamten Mannschaft zehrten. Fast waren wir soweit, dass wir unsere Mission abbrechen und mit leeren Händen zur Erde zurückkehren wollten, als wir eines Tages völlig überraschend auf einem sehr kleinen Planeten namens XLQ 3, den wir ohne besondere Erwartungen angesteuert hatten, eine Gestalt entdeckten, die wie Elvis aussah. Das Landemanöver lief schon und immer deutlicher konnten wir den Mann im weißen Overall sehen, der auf der staubigen Oberfläche von XLQ 3 scheinbar auf uns wartete. Unsere Crew war plötzlich wahnsinnig aufgeregt, die Enttäuschung und Lethargie der vergangenen Monate waren verflogen und alle machten sich mit Sauerstoffgeräten zum Landgang bereit. Als unser Schiff endgültig auf dem eher unwirtlich aussehenden Planeten gelandet war und sich die Luken öffneten, stürzten alle fünfzehn Crewmitglieder hinaus. Jean und ich konnten vom Raumschiff aus nun ganz deutlich erkennen, dass dort unten tatsächlich Elvis stand, der verstorbene Elvis, denn er trug keine Sauerstoffmaske. Unsere Mannschaft hatte inzwischen das Raumschiff verlassen und rannte nun leicht hysterisch in die Richtung von Elvis. In diesem Moment herrschte zwischen Jean und mir eine tiefe Übereinkunft, wir schauten uns nur kurz an und wussten genau, was wir zu tun hatten. Jean schloss ohne zu zögern die Luke unseres Raumschiffs und leitete den Startvorgang ein. Augenblicklich hoben wir wieder vom Planeten XLQ 3 ab. Von der Schaltzentrale aus konnten wir sehr deutlich die entgeisterten Gesichter unserer Crew erkennen, denn ihre Sauerstoffgeräte würden sie nur für wenige Stunden versorgen und es sah nicht so aus, als ob Elvis auf diesem Planeten Sauerstoffvorräte für unerwartete Besucher von der Erde bereithielte.
Schon nach wenigen Minuten waren wir aus dem Gravitationsfeld von XLQ 3 verschwunden. Nun verband Jean und mich eine große Schuld, denn wir hatten uns aus puren Geschmacksgründen unserer Crew entledigt. Doch größer als die Schuld war die Erleichterung, dass auch weiterhin auf der Erde niemand erfahren würde, dass Elvis tatsächlich auf einem weit entfernten Planeten zu finden war. Allerdings war Jean und mir klar, dass eine Rückkehr auf die Erde unmöglich war, denn wir hätten eine große Lüge erfinden müssen, um den Verlust unserer Mannschaft zu erklären, und das konnten wir beide nicht.
Also ließen wir uns einfach weiter durch das unendliche Universum treiben und hassten uns für unser Vergehen und wussten doch, dass wir nicht anders handeln konnten. Seit zwei Jahren waren alle Alkoholvorräte an Bord aufgebraucht, so dass wir jeden Tag nüchtern unsere Situation und ihre Ausweglosigkeit betrachten mussten.
Vor allem am späten Abend, wenn ich am liebsten wie früher nach einem langen Tag zufrieden schlafen gegangen wäre, überfiel mich die Streitlust, denn es gab keine zufriedenen, erfüllten Tage mehr, es war überdies völlig egal, ob ich schlafen ging oder nicht, denn der Bordcomputer erledigte alles, für Jean und mich gab es keine wirklichen Aufgaben mehr.
Manchmal hatte ich Glück und ich konnte Jean in einen langen, zähen und sinnlosen Streit verwickeln, der uns so erschöpfte, dass wir tatsächlich irgendwann müde in einen traumlosen Schlaf fielen, der uns schließlich wieder in einen trostlosen neuen, schwarzen Tag entließ.
Doch heute wollte Jean nicht streiten. Stattdessen griff er zu seiner Gitarre und spielte einige unverfängliche Akkorde. Daraus wurde eine kleine Melodie und Jean schaute mich auffordernd an. Ich schloss die Augen, denn ich spürte noch eine Menge Widerstand in mir, doch es war vergebens. „Sing es“, flüsterte Jean jetzt, und mein Widerstand schmolz dahin, meine Wut ging im Rhythmus der Gitarre auf, ich war 15, es war Frühling, das Leben lag vor mir, ich hielt die Augen geschlossen, damit das Licht und die Wärme mich nicht wieder verließen und ich sang mit heiserer Stimme, aber voller Leidenschaft, obwohl ich Jean und mich dafür hasste, „Moonlight Shadow“ und wippte mit dem Fuß den Rhythmus dazu. Marion W