Der Fisch als Kamerad


Auf dem Lande gibt es viele Vereine. Auch wenn Fernsehen, Rundfunk und Internet längst ungehinderten Zugang in die ländliche Gegend haben, scheint der Mensch hier nicht ausgelastet. Er sucht weitere Beschäftigung zum Feierabend und auch die Gruppe der Gleichgesinnten, die umso kleiner ist, je ausgefallener die Freizeitbeschäftigung.
Ein Verein der Aquarienfreunde hat sich in der Nähe etabliert, die den still vor den bunten Glaskästen hockenden Menschen eine Heimat ist, wenn sie einmal sprechen und verstanden werden wollen.
Die Sprache zeichnet uns Menschen aus, wusste schon, sinngemäß, Thomas Mann.

Diesen Menschen, die Fische in kleinen wassergefüllten Glaskästen lieben, träte man zu nahe, würde man ihr stilles Beobachten als stumpfes Starren bezeichnen. Das häusliche Gezeter von Rotraud zwingt den ländlichen Mann, sich einen stummen Kameraden zu suchen, mit dem er gemeinsam schweigen kann.

Zu Hause schaut man misstrauisch auf das scheinbare Nichtstun, auf dieses meditative Beschäftigtsein mit der maritimen Kleinstwelt herab. Die Bewegungslosigkeit ist aber höchste innere Betriebsamkeit, gilt es doch, den Futterbedarf der schwimmenden Exoten zu berechnen, den Sauerstoffgehalt ihrer Lebensflüssigkeit zu kontrollieren und die Frage zu beantworten, warum der Skalar mit dem Bauch nach oben an der Oberfläche dümpelt.
Bring lieber mal den Müll runter, schreit es aus der Küche, völlig ignorierend, dass hier existenzielle Probleme gewälzt werden. Die Treppe müsste gewischt werden!

Als ob das wichtig ist, angesichts einer vielleicht aufkommenden ökologischen Katastrophe im heimischen Wasserkasten, der doch den von der Ausrottung bedrohten Edelfischen eine letzte Zuflucht sein sollte. Daheim scheint niemand die globale Gratwanderung zu bemerken: Dort in der Weite sind die Weltmeere umgekippt, hier, im Kleinen, ist eben ein großes Glas Rotwein umgekippt und hat sich in das Refugium ergossen. Was soll werden?

Zu Hause bleibt der Aquarienfreund allein mit seinen Sorgen, muss sich sogar als Faulpelz diskriminieren lassen. Im Verein trifft er auf Freunde, die ihn an ihr Herz legen und Trost spenden, weil sie Rat wissen. Kann nicht schaden, Helmut! An mein Fischgulasch gieße ich auch immer einen ordentlichen Schuss Roten. Die Frage ist, wie kriegst du das Wasser wieder klar? Kannst sonst gar nicht richtig gucken! Filtersysteme werden diskutiert, Kennerratschläge ausgetauscht. Günter, leicht berauscht vom Vereinsgetränk, macht die überflüssige Bemerkung: Salz draufstreuen, wie meine Oma damals schon, bringt den Rotwein sogar aus dem weißen Oberhemd. Haha! Oder Weißwein hinterherkippen.
Wie in allen Bereichen der Gesellschaft, so treffen wir auch in Vereinen gelegentlich auf Abweichler, die den Sorgen ihrer Mitmenschen nicht den rechten Respekt zollen wollen. Ausnahmen, die nicht von der praktischen Lebenshilfe ablenken dürfen. Dem Stummen, der mit dem beflossten Kameraden daheim unter schwersten Bedingungen kontempliert, hat der dritte Wacholder endlich die Zunge gelöst und er kann es rauslassen: Rotraud, den Müll, der noch immer in der Küche gärt, die globale Krise im Wasserbecken, das Unverstandensein und überhaupt.

Auf dem Lande ist niemand allein. Wer Rat sucht, wird ihn finden. Oder Trost. Begleitgetränke erlösen für ein paar Stunden von der Seelenpein; da kann Mutter zu Hause krakeelen, was sie will. Der Aquarienfreund bleibt da, wo er angefeindet wird, stumm wie sein Lieblingskugelfisch in seinem Glaskäfig neben der Stollenwand und trotz damit der Gedankenlosigkeit und denen, die die Welt einfach untergehen lassen.