Ciel et Terre

Die Tauben waren verwirrt: Der Himmel ist doch oben, ich muss fliegen, um hinzukommen, jetzt liegt er vor mir und ich muss nur noch ein paar Schritte gehen, da stimmt was nicht. Längst hatten die Großstadttauben die vertikale Ausrichtung größtenteils aufgegeben. Das Gute lag auf der Erde und musste nur noch aufgepickt werden. Von oben erwarteten sie keine Wunder mehr. Nach nur wenigen Mutationssprüngen würden sie flügellose, erdschwere Müllfresser sein. Und jetzt das. Ihre Gleichmütigkeit wurde erschüttert, ja, da war doch noch was. Die Träume. Auf etwas hoffen. Die Liebe. Der Himmel. Für einen Augenblick vergaßen sie die Reste vom Chickenwrap an der Bushaltestelle, die doch eigentlich für die nächsten zehn Sekunden ihr größtes und einziges Lebensziel sein sollten. Und - standen die anderen nicht auch auf einmal still? Fühlten sie es auch? Sollten sie vielleicht einfach zur Seite schauen und sich über ihre Träume austauschen, das ewige Picken und Fressen einfach mal vergessen und sich den anderen mitteilen? Aber wer sollte beginnen? Eine hatte sich schon bis zur Sonne vorgewagt, aber sie traute sich nicht sich umzudrehen. Keine wagte den Seitenblick, keine nutzte den magischen Moment zur Kontaktaufnahme. Das ist doch eine Sinnestäuschung, dachte die eine. Ein Trick von fremden Tauben, um uns abzulenken und an unsere Essensreste zu kommen, eine andere. Was hat sich die Stadtverwaltung jetzt wieder einfallen lassen, um uns loszuwerden, die dritte. Wir schauen nicht nach oben, wir fliegen nicht, wir kriechen weiter durch den Stadtdreck und morgen ist die Kreide sowieso weg.