Typen: Der Akrobat (Günter Krass)


Es gibt Leute, die sind Akrobaten; sie stehen anderen auf den Schultern, strecken die Arme aus und fallen nicht runter.
Sie lieben das Risiko, auch wenn es keins ist. Die Menschen sollen die Akrobaten sehen, sollen staunen und klatschen, vor allem klatschen.
Klatschen, weil sie oben stehen, weil sie nicht fallen, obwohl sie die Arme ausgestreckt haben und sich nicht festhalten können. Dabei stehen sie auf den Schultern von irgendwem.
Über den spricht keiner, weil jeder denkt: Unten stehen, das kann doch jeder, das kann ja sogar ich, das ist doch keine Kunst, warum soll man denn da klatschen. Oben stehen und nicht runterfallen, das ist die Kunst.
Dem Untenstehenden schmerzt die Schulter, und er will sich gerne die schmerzhafte Stelle massieren, das würde aber bedeuten, sich zu bewegen, was wiederum die Stabilität des Obenstehenden gefährden würde.
Der Untenstehende hält aus und beißt die Zähne zusammen.
Der Akrobat nimmt irgendwann diese Duldsamkeit für selbstverständlich und hüpft und tanzt auf dessen Schultern, auf dass die Menschen ihn, den Akrobaten, immer mehr bewundern und beklatschen und bestaunen und ihn für ein menschliches Weltwunder halten.
Und dann, wie man sich denken kann, mit der Selbstverständlichkeit wächst der Mut, vor allem der Hochmut, und der paart sich mit Überheblichkeit.
Irgendwann ist der Träger die Schmerzen leid, krümmt sich ein wenig, um an die plagende Stelle mit den Fingern zu kommen, der Akrobat, mittlerweile unaufmerksam bezüglich seiner Balance geworden, fällt kopfüber und schlägt sich den Schädel auf. Die Schuld schiebt der Gestürzte natürlich dem Gequälten zu, er habe seine Pflicht aufs Unglaublichste vernachlässigt, habe seine, die des Akrobaten Gesundheit nicht nur gefährdet, sondern seine Versehrtheit verletzt. Kommt der Fall nicht nach dem Hochmut?, fragt der Träger, weil er belesen ist. Davon hat der Akrobat noch nie gehört und sucht  sich deshalb einen neuen Träger, auf dessen Schultern er stehen kann.
Der Untengestandenhabende fühlt sich missverstanden und allein. Er sucht sich einen neuen Akrobaten, den will er diesmal länger aushalten und nicht so selbstmitleidig dessen kunstturnerischen Übungen gefährden. Denn, so weiß er, jeder hat seinen Platz im Leben und sollte versuchen, an diesem und an keinem anderen zufrieden zu werden.
Der Akrobat beschließt, nie mehr abzustürzen.