Frau am See (Günter Krass 2014)

Neulich schwamm ich im See so vor mich hin und dachte darüber nach, wie es wohl wäre, eine Stunde auf einem Holzsteg zu knien und was die Leute wohl dächten, die mich dort so knien sähen.
Plötzlich erblickte ich eine Frau, die vollkommen ohne Badeanzug dort auf dem Holzsteg kniete, der zufällig auf meinem Weg über den See lag, denn ich nutzte gerne die Ufernähe, um von hier nach dort zu gelangen.
Ich dachte, warum sie wohl kniete und nicht stand und ob es sie nicht schmerzte, auf nackten Knien zu knien, was ja schon komisch klingt, und ob sie vielleicht fröre, denn sie war unbekleidet und vielleicht sogar feucht vom vorherigen Bad im See, und ob sie vielleicht ihren Badeanzug verloren hätte und darüber demütig trauerte und vielleicht sogar Tränen vergoss. Ich sah auch keine weitere Kleidung auf Steg liegen und fragte mich weiter, wie denn die Frau ohne Kleidung nach Hause komme wollte, ohne Aufsehen zu erregen, und ob möglicherweise hilfreiche Hände ihre Blößen mit Mäntel und Tüchern bedecken würden, auch um sie zu wärmen? Wie war sie hierher gekommen, etwa im Badeanzug? Vielleicht war sie vom anderen Ufer über den See geschwommen und hatte unterwegs den Anzug verloren, weil er ihr zu groß gewesen war und durch ihre kräftigen Schwimmbewegungen vom Körper geglitten.
Fragen über Fragen stellten sich mir und ich schluckte plötzlich etwas Seewasser, sodass ich nicht fragen konnte, sondern husten musste. Mein Husten bemerkte die nackte Frau, die auf dem Steg kniete, aber nicht, und so hielt ich es für besser wortlos von dannen zu schwimmen. Ich dachte darüber nach, ob ich an das Knien auf dem Steg gedacht hatte, als die Frau kniete, oder weil sie kniete, oder ob sie kniete, weil ich an das Knie gedacht, oder nachdem ich daran gedacht hatte.