Günter Krass - Auf einem Bein stehen


Es gibt Menschen, die können wirklich auf einem Bein stehen. Auch wenn der Volksmund sagt, man könne nicht, und gleichzeitig motivieren will, einen weiteren Schnaps zu trinken.
Früher war es so, dass jedem Besuch Alkohol angeboten wurde, das gehörte zum guten Ton; alte Männer kamen mit stinkenden Zigarren in die Häuser, junge mit Zigaretten, die etwas weniger stanken, weil sie kürzer und dünner waren.
Rauchen und Alkoholtrinken galten als natürlich, so wie Atmen und Wassertrinken; selbst Löcher in den Zähnen aufgrund ungebändigten Zuckergenusses waren normal, komisch erschien es den Kindern, wenn keine Plombe ihre Löcher füllte, sondern das Gebiss ohne  - nach heutiger Sicht - Makel war. Eher war das Blendendweiße ein Makel.
Wenn ein erster Schnaps verköstigt worden war, gehört es sich für eine gute Gastgeberin oder einen guten Gastgeber, einen zweiten anzubieten, der dann aber auch signalisierte, dass der Besuch demnächst beendet sein würde, denn Alkohol hin oder her, es war schließlich noch kein Feierabend, sondern vielleicht früher Morgen, und das Tageswerk noch nicht vollbracht.
Einen einzigen Schnaps getrunken zu haben, hieße aber eben, auf einem Bein zu stehen, und das wollte man keinem Menschen zumuten, weil der sonst durch ganze Dorf gehüpft wäre und dadurch jedem klar geworden wäre, dass eine normale Gastlichkeit in jenem Haushalt, aus dem der Einbeinige gehüpft kam, nicht gepflegt wurde.
Das wollte sich keiner antun, denn man hatte nicht vor, die Dorfgemeinschaft zu verlassen, oder gar als Außenseiter geächtet zu werden.
So kam es fast wie Nötigung an, wenn jemand, der auf nur einem Bein stehen konnte und wollte, zu einem zweiten Schnaps überredet wurde. Letztlich war es nicht die Gastfreundlichkeit, die antrieb, sondern purer Eigennutz, und das ist eigentlich auch verwerflich; wenn es aber keiner merkt, so bleibt die Welt in Ordnung.