Onkelsprüche begleiten durchs Leben

Das OP-Tuch war bestimmt nicht steril und die Hände der Narkoseärztin auch nicht und überhaupt, Ronni spürte noch gar keine Narkose. Wo war er gelandet? Hatte Onkel Ludwig endlich seine Drohung wahr gemacht und wollte ihm die Ohren abschneiden? Nein, Onkel Ludwig lebte nicht mehr, Ronni war doch selbst auf der Beerdigung gewesen und hatte zu Tante Hetti gesagt, dass er Onkel Ludwig so gern gehabt hätte. Vielleicht wollte sich Onkel Ludwig doch noch rächen, weil er im Himmel nun zu den Allwissenden gehörte und natürlich wusste, dass Ronni Onkel Ludwig gar nicht gemocht hat. Aber daran war Onkel Ludwig schließlich selbst schuld, denn ständig hatte er Ronni angedroht, dass er ihm die Ohren abschneiden wolle. Mit 9 hatte Ronni begriffen, dass Onkel Ludwig das nicht wirklich wollte, aber da hatte er schon 7 bewusste Lebensjahre mit dieser Drohung verbracht, hatte sonntagsabends wach im Bettchen gelegen, wenn Onkel Ludwig und Tante Hetti wieder weg waren und sich vorgestellt, wie Onkel Ludwig die Mutter um die gute Schere zum Stoff schneiden bittet und den Knorpel langsam, aber sicher durchtrennt, ohne Abrutschen und mit viel Blut. Ronni fragte sich außerdem, warum seine Eltern Onkel Ludwig solch eine Verunstaltung erlauben würden, denn sie sagten nie etwas, wenn Onkel Ludwig mit dem Abschneiden der Ohren drohte, schlimmer, sie lachten darüber und der Vater goss Tante Hetti noch Kellergeister nach. Als Ronni 15 war und sich ins linke Ohrläppchen einen Stecker schießen lassen wollte, taten sie plötzlich, als ob Ronnis Ohr sein wichtigster Körperteil sei, schützenswert und heilig und kürzten Ronnis Taschengeld, als er sich doch ein Ohrloch verpassen ließ. Und dann sollte das Ohrloch im linken Läppchen auch noch Auskunft über Ronnis sexuelle Ausrichtung geben, der Vater hatte da was gelesen, Ronni dachte wochenlang darüber nach, welchen Zusammenhang es zwischen Ohren und anderen wichtigen Organen gab, er fand keinen und fand sich schließlich damit ab, dass seine Angst, seine Ohren zu verlieren, ihn sein Leben lang begleiten würde. Und jetzt dieser Alptraum, wie hieß der Film noch, den er doch gar nicht sehen wollte, aber es lief ja nichts andere und Klaus hatte ihn doch gerade sitzen gelassen, er brauchte Ablenkung – irgendwas mit Hackfressefinger und einem Typen, der scharf auf Männerohren war. Ronni erwachte, er zog sich die Bettdecke über den Kopf, über das Ohr, er verhedderte sich am Ohrstecker, ein Geschenk von Klaus, er versuchte es mit Atemübungen, durch die Nase rein, aus dem Mund raus, das Ohr vergessen, hieß sein Mantra.