Die vierte Dimension

Hinter jedem Fliesenmuster verbergen sich geheime Welten, manchmal nicht nur drei- sondern sogar vierdimensionale. Sie lassen sich erschließen, wenn du am Ende eines Tages lange auf die Fliesen starrst, im privaten Bad oder in der Küche, beim Zähneputzen oder Spiegeleierbrutzeln, und die Ereignisse dieses Tages am inneren Auge, das du auf die Fliesen projiziert, vorüber laufen lässt. Täglich erschließt sich nach einigen Minuten des Starrens und Verharrens die eine oder andere Begebenheit, die auch ganz anders hätte verlaufen können. Zum Beispiel der Beinaheunfall am frühen Morgen, der dich in der Mittagspause noch zittern lässt. Die geheime Welt hinter dem Fliesenmuster zeigt dir die Unfallbilder, das Autowrack, den Krankenwagen und schließlich die entsetzten Gesichter der Kollegen, die später erfahren müssen, dass sie nun Mehrarbeit leisten müssen. Sind sie nur deshalb so entsetzt?, fragst du dich beim Starren und Erinnern. Du siehst, wer spontan weint, wer die Hände vors Gesicht schlägt und wer schon mal sein Butterbrot auf deinen Platz schiebt, um endlich vorteilhafter zu sitzen. Und wer sich dein vergessenes Butterbrot vom Vortag krallt. Und die Kollegin, die fassungslos auf ihre Box mit Apfelachteln starrt, die sie auch für dich morgens, noch halb schlafend, geschnitten hat. Der Blick in die geheime Welt hinter dem Fliesenmuster erfüllt dein Herz mit Wärme und Dankbarkeit, denn du hast an diesem Tag die Äpfel noch essen dürfen, du wirst sie sogar noch vollständig verdauen dürfen, du durftest nach der Arbeit wieder nach Hause fahren und du hast auch diese Fahrt heil überstanden. Und trotzdem wünscht du dich manchmal in diese geheime Welt, in der es keine angebrannten Spiegeleier gibt oder Nachbarn, die abends noch mit ihrer Band proben oder Kollegen, die einem die Butter auf dem Brot nicht gönnen.