Schulgeschichte: Schlechter Leser

Eine Brille ist nicht immer eine Lesehilfe
Rudis Brille beschlug immer,wenn er lesen musste. Rudi war ein schlechter Leser, das wussten alle, er hatte schon ein Jahr wiederholt und war jetzt der Älteste in der Klasse. Er ruckelte an seiner Brille und wir konnten sehen, dass die Gläser wie benebelt waren. Damit konnte er gar nicht lesen, wir hätten das auch nicht gekonnt, und wir waren gute Leser. Er kämpfte mit jedem Wort, als müsste er es  herauswürfen.
Später erkannten wir, dass Rudi der Angstschweiß vor der Stirn gestanden haben musste und dass er vielleicht weinte. Das konnten wir aber nicht sehen, denn die Brille ließ keinen Blick auf seine Augen zu. Wie gebannt starrten wir deshalb auf den Rohrstock, der ruhig in der Kreideablage der Tafel lag.
Gleich würde er zum Einsatz kommen und Rudi würde lernen, dass schlechte Leser Prügel bezogen und dass eine beschlagene Brille kein Grund ist, verschont zu werden.
Er lernte auch, dass eine Brille keine wirkliche Lesehilfe ist.
Zu Hause gab es keinen Trost, sondern Arbeit als Handlanger.
Der Vater war Mauerpolier mit schlichtem Weltbild und einem Akzent, der nach Erzgebirge klang. Ein Sohn der nicht lesen konnte, sollte wenigstens handlangern und durfte Prügel beziehen. Es waren staatlich verordnete Prügel, die man nicht erklären musste. Anders als die heimischen, die einfach unerklärt blieben.
Rudi begann später eine Maurerlehre und zog nach Bayern. Wir fanden das zwingend und logisch. Später kam er auf Besuch in sein altes Heimatdorf: Er hatte eine Frau bei sich, die älter war als er, trug einen Lodenmantel und sagte jetzt Grüß Gott statt Guten Tag, mit bayrischem Akzent.
Er war jetzt ein anderer. Er war jetzt glücklich.