Knickeier

Das Wort Knickei hatte für Molli einen dynamischen Klang. Das Wort hatte Kick, etwas Kurzes, Knackiges. Die Eier hatten einen Knick, eine Macke, sie scherten sich nicht um Lebensregeln wie 'Ein Ei gleicht dem anderen'. Knickeier ließen hoffen, auf Ausnahmen und Individualität. Aus jedem stinknormalen, weißen oder braunen, s, m, l oder xl-Ei konnte bei falscher Technik der Legehenne, bei Rempelei im Stall oder bei Stromausfall ein Knickei werden. Und ein Knickei war immerhin noch kein Bruchei. Sicher, da gab es etwas, dass dem Ei seinen Anschein von Perfektion genommen hatte. Sicher, ein Ei kann man nicht reparieren, der Knick bleibt, Ausbeulen und Überlackieren ist nicht. Aber der Knick erst hob das Ei aus der Masse heraus.
Molli liebte Knickeier und war begeistert, wenn der Bauer der Mutter samstags beim Eierholen Knickeier anbot und díe Mutter, von Sparsamkeit getrieben, das Angebot annahm. Mollis kleine Schwester Milli kannte nur Tickeier und Mollis und Millis Vater liebte Spiegeleier zu den Bratkartoffeln, aber Mollis ganze Leidenschaft gehörte den Knickeiern.
Molli träumte. Von ausgebrüteten Knickeiern, also Knickhühnern. Am liebsten wäre sie selbst Knickeierglucke geworden, doch der erste und einzige Versuch ließ aus den Knickeiern doch noch Brucheier werden und bescherte ihrer Hose unschöne Flecken und verständnislose elterliche Blicke.
Molli liebte trotzdem die angedetschten, aussortierten Knickeier, den dynamischen Klang und die Knickeiersamstage.
Später kam es, wie es kommen musste. Milli bekam einen Tick und Mollis Leben bekam Knicke und an gemeinsam verbrachten Osterfesten leerten sie manche Flasche Eierlikör zu viel.