Löwenzahnherz

Nadja! Lange nicht gesehen! Ich kämpfe im Blumenbeet gegen Löwenzahn und sehe Nadja, die ihrem Schwiegersohn bei der Gartenarbeit hilft. Das müsste sie nicht tun, ihre Tochter, die Frau meines Nachbarn, wohnt schon lange nicht mehr hier, aber Nadja hilft gern und andere Arbeit findet sie nicht mehr. Ich verlasse mein Beet und gehe zu Nadja, die mir gleich von ihrer Familie erzählt, von ihrer Hüfte und vom Alkohol, mit dem man sich nicht zu sehr anfreunden sollte, denn der hat ihre letzte Putzstelle bankrott gehen lassen. Zwischendurch bückt Nadja sich, so gut es mit der Hüfte geht, zupft eine Löwenzahnblüte aus dem Gras und schiebt sie in den Mund. Nadja fängt an zu weinen, ihre Mutter ist so krank, dass sie bald sterben wird und Nadja hat nur einen Wunsch, sie möchte ihrer Mutter einenTeil ihres Leids abnehmen und ich glaube Nadja jedes Wort. Wieder bückt sie sich und isst Löwenzahn, im Rasen meines Nachbarn blüht reichlich Löwenzahn, so dass ich ihr nichts von meinem anbieten muss. Nadjas Tränen kullern über ihre rosigen, fleischigen Wangen, sie zerkaut die Löwenzahnblüte und ich möchte ihr gern was sagen, was Tröstliches, was ihrer russischen Seele gut tun könnte, aber mir fällt nichts ein, für einen kurzen Moment wünsche ich mir, dass mein Nachbar mit einer Balalaika aus dem Haus kommt und wir gemeinsam traurige Lieder singen, russische natürlich, aber mein Nachbar hat nur eine E-Gitarre, ich kann kein Russisch, vielleicht habe ich ein bisschen was Russisches in meinem Herzen, doch das kann ich Nadja auch nicht vermitteln, also sage ich nur, dass ihre Mutter hoffentlich eine gute Schmerztherapie bekommt. Nadja nickt. Nadjas Tochter, die Exfrau meines Nachbarn, ist Krankenschwester und würde, zur Not unter Morddrohungen, aus jedem Arzt einen ausgezeichneten Palliativmediziner machen. Nadja isst wieder Löwenzahn, ich frage mich, warum ich nicht viel eher auf diese Idee gekommen bin, was für ein Irrglaube, Löwenzahn besiegen zu können, bei den tiefen Wurzeln, ihn einfach aufzuessen ist genial und so was von Russisch. Vielleicht kann man ihn mit Wodka hinunterspülen. Und dann ist mein Herz ein bisschen schneller als mein Verstand, was bestimmt eine russische Eigenschaft ist, und ich werfe mich an Nadjas weiche Brust und fange ebenfalls an zu weinen und Nadja hält mich mit ihren kräftigen Armen fest und weint und tröstet mich gleichzeitig und dann bückt sie sich und schiebt mir eine Löwenzahnblüte in den Mund und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und ich bin sicher, dass ich irgendwo ein Rezept für eine Löwenzahnquiche habe.