In Gesichtern lesen

Manche psychologisch Interessierte behaupten, man könne in Gesichtern lesen, könne so einiges erfahren über den Lebenswandel und die Vorlieben und was in den letzten drei Tagen so alles passiert sei. Die haben vielleicht sogar recht. Entscheidend ist natürlich, ob mich als Betrachter das wirklich interessiert.
Da kommt uns der Nachbarsjunge entgegen, keine 17 Jahre alt, Augenringe bis an die Ohren und ein verlegenes Grinsen, das mir sagen will: Frag mich jetzt nichts.
Wer nichts fragen darf, macht sich so seine Gedanken und nimmt dürftige Informationen, um daraus eine schöne Geschichte zu machen, die sich in der Nachbarschaft, die gegenüber der des Nachbarsjungen liegt, erzählen lässt.
Die dunklen Ringe um die Augen lassen schließen, dass der junge Kerl kaum geschlafen hat, hat die Nacht zum Tag gemacht, macht jetzt auf Waschbär, was bedeuten soll, dass er mit allen Wasser gewaschen ist, aber jetzt in den Winterschlaf hinabgleiten will, wobei gar nicht klar ist, ob Waschbären in den Winterschlaf fallen oder eher in eine Starre, wie sie nur bei Amphibien vorkommt. Amphibien leben im Wasser, streng genommen ist der oben genannte Bär ein Exemplar dieser Abteilung Tier.
Der Waschbär braucht Anerkennung und ein paar Streicheleinheiten. Die Augenringe erzählen aber auch: Wenn du meine Ringe zählst, Meister, weißt du, wie alt ich bin. Hundert Jahre.
Bedeutet: Da hat einer was durchgemacht, das hat ihn schnell altern lassen. Wenn man kaum 17 ist,  hinterlässt das keine wesentlichen Einschränkungen, wer das mit 50 macht, fühlt sich wie 70.
Das kann man keinem erzählen, wenn man selber 51 ist.
Der Junge braucht professionelle Betreuung, wahrscheinlich ist er sogar noch Auto gefahren, wird nächsten Januar Vater und hat seinen Dispositionskredit erheblich überzogen. Er hat eine alte Frau über die Straße geschupst, die hat sich die Knie aufgeschlagen und ist auf die Hände gestürzt, auch die sind blutig. Er hat sich Geld von einem Mafia-Angehörigen geliehen und ein paar Drogen gekauft, die er unglücklicherweise zur Hälfte an Umstehende verkaufen wollte, unter denen ein Fahnder war, dem er entwischt ist. Der rennt jetzt hinter ihm her, der Junge ist aber schon zu Hause.
Eine schöne Geschichte nimmt hier ihren Anfang. Das kann man gut erzählen, weil die Geschichte sich aus den Räuberpistolen der Gelben Presse heraushebt, ein Live-Mitschnitt eben,der durch seine Frische glänzt.
Der Junge mit den Augenringen schläft jetzt. Der Beobachter geht mal nach drüben auf eine Tasse Kaffee. Schön, dass es Psychologie gibt!