Wo schneiden bei der Blutsbrüderschaft?

Wo schneiden bei der Blutsbrüderschaft?

Bodo und Piete waren Kusengs. Sie wären gerne Freunde gewesen, aber leider waren sie schon Kusengs.Sie waren nicht Vettern, das hörte sich zu dick an, und sie waren nicht Cousins, das war französisch und überkandidelt. Das eine schloss das andere aus: Entweder Kuseng oder Freund. Beides ging nicht. Das war Gesetz, auch wenn es nirgendwo niedergeschrieben war.

An Tagen, wenn sie nicht gestritten hatten, dachten sie darüber nach, wie sie ihr Zwangsverhältnis, das durch die Verwandtschaft ihrer Väter bestimmt wurde, selbstbestimmt intensivieren konnten. Auch wenn ihnen das Vokabular fremd war, ahnten sie, worum es ging. Kuseng war man, da konnte man nichts machen. Freunde werden war freiwillig.
Sie beschlossen Blutsbrüder zu werden. Das hatten Old Shatterhand und Winnetou in Winnetou 1 vorgemacht.

Blut ist dicker als Wasser, sagte die Oma in der Kittelschürze, wenn sie ein geschlachtetes Huhn rupfte. Das Blut des Huhnes hing draußen am Hauklotz, das Beil steckte oben im Holz.

Hier ahnten die Kusengs, um was es im Leben wirklich ging. Blut. Der Saft, aus dem Leben gemacht ist. Der Saft, der verbindet bis in den Tod und darüber hinaus. Wer mehr als ein Kuseng sein wollte, der musste sich einem schmerzhaften Männerritual unterwerfen. Von Blutsschwestern hatte man noch nie gehört, von Blutsgeschwisterschaft schon lange nicht. Blutsbrüderschaft war etwas für Männer, denn nur die konnten Brüder werden.

Winnetou und Old Shatterhand hatten es vorgemacht. Mit ihren riesigen Bowiemesser, die auch BOWInesser ausgesprochen wurden und nicht etwa Bowie oder Baui, schnitten sie sich mutig in die Handflächen. Sie zuckten nicht, sie schauten sich fest in die Augen, vielleicht um nicht das Blut sehen zu müssen. Ein Indianer, der kein Blut sehen kionnte, war kein guter Indianer.
Indianer kannten keinen Schmerz, aber Lex Barker, bzw. Old Shatterhand bzw. Charly, wie er auch genannt wurde, Karl war doch ein Weißer, der musste doch etwas spüren?
Und -  warum schnitten sie sich gerade in die Handflächen, das konnte doch leicht entzünden? Welche alltäglichen Handlungen durch einen entzündeten Schnitt in der Handfläche, glücklicherweise links, behindert wurden!  
Ein anderes Mal oder in einem anderen Film oder gar im Buch schnitten sie die Stelle am Unterarm, wo jeder sofort dachte, die treffen da eine Ader, dann spritzt es nur so heraus! Gibt es denn keine Stellen, wo es a) nicht wehtut und b) nicht spritzt?

Mein weißer Bruder! Mein roter Bruder! Diese Anreden waren der Lohn für den Schmerz, für die Entzündung, für drei Wochen Wundversorgung, drei Wochen Einschränkung beim Niederschmettern von Feinden, drei Wochen Einschränkungen bei allen möglichen Gelegenheiten! 

Blutsbrüder. Das war schon was. Da wusste jeder sofort, dass hier keine Softies sich einem Ritual hingegeben hatten. Die hatten über den blutigen Schmerz dem anderen gezeigt, wie gut sie ihn fanden. Da kam kein Kuseng mit. Vetter und Cousin schon gar nicht.

Bodo und Piete dachten noch einmal über die Blutsbrüderschaft nach. Wo sollten sie den Schnitt machen, das war keine unwesentliche Frage. Welches Messer wollte man nehmen? Ein scharfes oder eher ein stumpfes, damit es nicht so schnitt?
Konnte man nicht Nasenbluten durch verstärktes Popeln erzeugen. Aber wie sah das aus? Nase an Nase? 
Vielleicht sollten sie warten, bis beide eine Borke hatten, etwa auf dem Knie, da floss doch schon mal Blut, wenn man die Borke zu früh anhob, um zu gucken, ob die Haut darunter schon heil war.
Meistens hatte aber immer nur einer ein Borke. Sollte dann der andere schneiden? Eigentlich war es gar nicht der Schmerz, der hinderlich war, sondern die Angst vor dem Schmerz.

Borken. Das war die Lösung. Das Warten auf Borken. Das Warten auf Borken an beiden Kusengs,  und dann Blutsbrüderschaft.

Das gerupfte Huhn stand am Sonntag als bleiches Frikassee auf dem Tisch, als sei es nie von Blut durchflossen worden. 
Die Kusengs waren immer noch nur Kusengs.
Die Schnittwunden an Winnetous und Charlys Unterarmen waren längst verheilt. Sie waren Blutsbrüder. Das war schon was. Zur Erinnerung fassten sie sich beim Begrüßen immer an den Unterarmen, statt sich die Hände zu schütteln. Dann legten sie jeder die Hand aufs Herz und deuteten mit verklärtem Blick in die Weite. Sie waren stolz auf sich.

Bodo und Piete wussten, dass ihre Stunde kommen würde, dass ihre Borken für die Blutsbrüderschaft kommen würden. Es war nur eine Frage der Zeit. Dann würden auch sie stolz sein.