Torso mit Wurzeln

Liebe Mutter,
es hat mich erwischt, der letzte Januarsturm hat mich umgehauen, noch weiß ich nicht, ob ich abtransportiert und zersägt werde oder ob ich als Totholz wertvoller bin und den Borkenkäfern überlassen werde. Da war schon immer diese Ahnung, dass das dicke Ende noch kommen wird, dieses Gefühl der Haltlosigkeit, hab ich gern kompensiert mit Maßlosigkeit, wollte der größte und schönste Baum sein, aber tief in meinem Innern war diese Leere und irgendwo in dieser Leere das Wissen, dass ich schneller auf dem weichen Waldboden liegen könnte als mir lieb sein würde. Und daraus entstand die Angst, die Angst vor dem weichen Waldboden, den Käfern und Pilzen und der Zersetzung und ihrem Geruch. Ganz schlimm wurde es nach der Bemerkung dieses Wanderers, der mit seiner kleinen Tochter durch den Wald stiefelte. Sieh mal, Papa, was für ein schöner, großer Baum!, rief das Mädchen und versuchte meinen Stamm zu umarmen, was ihr nicht gelang und mich mit Stolz erfüllte. Scheiß Flachwurzler, murmelte der Vater nur und stapfte weiter. Armer Baum!, seufzte das kleine Mädchen, küsste meinen Stamm und hopste fröhlich hinter ihrem Vater her. Seit diesem Tag bin ich eigentlich schon wie tot, Mutter, und jetzt ist es wirklich passiert. Solltest du mich nicht stark machen, mir Halt geben, tiefe Wurzeln? Ja, ich weiß, das war nicht leicht damals mit mir, als junger Baum, machmal war ich frech zu dir, habe nachgeplappert, was ich von anderen jugendlichen Bäumen aufgeschnappt habe, aber deswegen hättest du mir doch trotzdem Liebe zum Leben und auch die Liebe zum weichen Waldboden vermitteln sollen. Sicher war das Geld damals knapp und es gab noch keine Erziehungsratgeber und ihr seit noch viel schlimmer erzogen worden, aber bei wem soll ich mich denn sonst beschweren. Ach, ich will mich ja gar nicht beschweren. Einmal noch mit freiem Blick in den blauen Himmel sehen, aufrecht und stark und unbekümmert, und dann umfallen.
Dein Waldemar