Günter Krass: Das wahre Stiefeltrinken

Warum wir in die Kneipe gingen, um uns zu betrinken, wussten wir nicht. Wir waren Schüler, beginnende Oberstufe. Es war ein manchmal lautstarker, aber für den Einzelnen stiller Protest gegen die verkrustete Mottenkugelpädagogik des Gymnasiums. Es war ein Ritual.
Der stoische Wirt schenkte ein, zuckte nicht mit der Wimper, wenn die Halben an den Tisch geordert wurden. Vier Könige. Der erste bestellt, der zweite trinkt an, der dritte trinkt aus, der vierte zahlt. Das war nicht immer einfach, besonders für die, die wenig Kontrolle über ihren Verdauungstrakt hatten, vor allen nicht über den Magen.
Ähnlich das Stiefeltrinken: Bestellen, trinken, trinken,trinken, austrinken. Der Vorletzte zahlt! Bloß nicht blubbern lassen, das hieß: Herr Wirt, neue Füllung!
Der Stiefel musste in der Endphase waagerecht gehalten und dann vorsichtig gedreht werden, um seinen kompletten Inhalt spritz- und schwappfrei herauszubekommen.
Am Ende: Wandprobe. Der Stiefel wurde an die Wand gehalten und es wurde geprüft, ob nicht ein Tropfen aus ihm herauslief. Dann zahlte der Letzte.
Die Magenmimosen fanden sich an den Schüsseln und brüllten in sie hinein. Alle schwankten nach Hause. Manche sprachen mit Parkuhren oder versuchten in Schaufenster mit Musikinstrumenten zu springen.
Verzweifelter Protest gegen die Pädagogik der Alten. Am nächsten Morgen war alles noch schlimmer.