Günther Krass: Erinnerungen - Der Mann ohne Unterleib

Ganz früher, als Kind und dann als junger Mensch, habe ich über Karl-Heinz Köppcke, diesen intergren Nachrichtensprecher, nachgedacht, den ich, genau wie Hans -Joachim Kuhlenkampf, für eine ältere Dame gehalten habe, die gern einmal auf ein Stück Kuchen vorbeigekommen wäre. Diese Tatsache, eine Frau zu sein, hätte aber impliziert, dass Karl-Heinz Köppcke einen Unterleib besessen hätte, an dem man unzweifelhaft sein Geschlecht hätte bestimmen können. Unter Köppcke befand sich in unserem Wohnzimmer nur das Mahagonitischchen, auf dem der Fernseher stand. Karl-Heinz Köppcke war eher ein Mann ohne Geschlecht, der lediglich aus einem Oberleib bestand, den er zum Nachrichtenlesen und –sprechen benötigte, und um dort eine seiner vielen ähnlich aussehenden Krawatten zu tragen. Noch früher gab es kein Fernsehen bei uns, nur bei Tante Anni. Dort staunte ich über den kleinen, rundlichen, hutzligen, gemütlichen Apparat, und jetzt weiß ich auch, warum Tante Anni mich so an Hilde Nocker erinnert. Hilde Nocker ist eine Spur weiblicher als Klaus Havenstein, der ähnlich androgyn wie Köpcke eine beruhigende Tantigkeit ausstrahlte. Hilde Nocker und Klaus Havenstein brachten durch ihre gesetzten Stimmen Gemütlichkeit, die der Engländer und schon gar der Amerikaner nicht kennen, die sie nur ahnen, aber kein Wort dafür haben, so dass ihnen das Gefühl immer indifferent bleiben muss. Hilde Nocker war die zwangsläufige Asssoziation zu einem Stück Mocca-Torte, die es oft bei Tante Anni gab und das jene mir durch penetrantes, wiederholtes Nachfragen aufnötigte. Mir fiel es schwer, nein zu sagen, und so sagte ich ja. Ja, Tante Anni, ich nehme noch ein Stück Moccatorte, weil die mich so an Hilde Nocker erinnert. Tante Hilde, nicht die Nocker übrigens, kaufte Mocca-Torte gern bei Lükemeier, dem örtlichen Bäcker. Gekaufter Tortenboden aber war und ist ein Desaster. Niemand mag diese süßlichen Matten wirklich, die Bequemlichkeit siegt aber immer, und, mit genügend Moccacreme bestrichen, lässt sich das Ganze mit Kaffee aufgegossen verdauen.
Karl-Heinz Köppcke schenkte Vertrauen. Aus seinem Munde gesprochen wirkte jede Katastrophe so, dass sie uns nie betreffen konnte. Der wüsteste Wirbelsturm würde uns unter unseren Dächern unbeweht, unbestürmt und unverletzt lassen, so lange nur Karl-Heinz Köppcke sprach. Er war Meditation und Hypnose in einem. So deutsch. So gemütlich, so durchdringend beruhigend. Und die Erwartung von Hilde Nocker und Klaus Havenstein potenzierten dieses Gefühl, steigerten es ins Unermessliche, um uns in tiefe und angenehme Träume zu schaukeln.
Und dafür waren die Unterleibe der genannten vollkommen überflüssig.